Rezension: Die Gesellschaft der Wearables

Rezension: zusammen mit 

Anna-Verena Nosthoff & Felix Maschewski. 2019. Die Gesellschaft der Wearables. Digitale Verführung und soziale Kontrolle. Berlin: Nicolai.

von Nils Zurawski, Hamburg

Schon der Titel hält eine kleine Irritation bereit: die Gesellschaft der Wearables. Eine Gesellschaft der Technologien, in der sich die Fitnessuhr mit dem Zuckermessgerät, der intelligenten Brille und anderen uns umgebenden Sensoren organisiert? Ja, nicht nur kommuniziert, daran sind wir schon gewohnt, das ist, zumindest in sehr beschränktem Umfang, längst Alltag in der digitalen Gesellschaft. Der Titel des Buches suggeriert nun eine (eigenständige?) Gesellschaft der Dinge, deren innere Struktur es zu untersuchen gilt. Das ist so ungefähr die Kurzfassung des vorliegenden Buches der beiden Autor-innen, wie ich es verstanden habe. Man könnte eine ANT-Analyse erwarten, die der Leser hier nicht bekommt, dennoch sind die vielfachen Vermischungen von Technologie und Sozialem allgegenwärtig und im Kern auch die Idee des Essays. Der Untertitel des Textes ergänzt diese erste Idee um den Zusatz „digitale Verführung und soziale Kontrolle“, womit der Anschluss an einen enormen Kanon von Literatur und Analysen zum Thema Überwachung und Kontrolle hergestellt wird.

Der Essay beginnt wie viele andere zu diesem Thema, eher wie eine Reportage im Feuilleton einer Zeitung oder ein extra-langer Magazin-Beitrag. Da beide Autor-innen häufig gemeinsam ebensolche Texte schreiben, liegt der Gedanke nahe. Der Auftakt mit dem bereits vielfach nacherzählten Werbespot für den Macintosh-Computer von Apple, gibt einen kleinen historisch-kulturtheoretischen Einstieg über den Aufstieg der Personalcomputer und die ideologischen Grundlagen des Silicon Valley. Und auch das zweite Kapitel erzählt anhand der Apple Watch bereits Bekanntes vom Trend zur Selbstoptimierung durch und mit digitalen Technologien wie Fitness-Apps und wie über diese Verführungen durch die Technologie mehr oder weniger subtil kontrolliert wird. So weit so bekannt, wollte ich schon denken.

Das dritte Kapitel knüpft zwar daran an, nimmt von da aber eine, nicht andere, aber auf diesen Argumenten aufbauenden, neue und analytisch sehr interessante Richtung. Ab Seite 41 mit dem Abschnitt „Der Godfather der Wearables” gewinnt der Essay enorm an Tempo und verliert mehr und mehr seinen feuilletonistischen Ton. Deutlich mehr Raum nimmt nun eine philosophisch-kulturtheoretische Analyse ein und bestimmt die Argumente. Dabei bleibt der Text sehr verständlich, präsentiert jede Menge guter Bilder und Vergleiche sowie einen kleinen Überblick über konkrete Technologien und Services.

Im Zentrum des Essays steht dabei vor allem der Psychologe und Informatiker Alex Pentland, dessen Ideen wohl maßgeblich für die Entwicklung und Ausdeutung von Wearables nicht nur in technischer Hinsicht sind. Der Satz „getting everyone to conordinate their behavior“, (klingt wohl nicht nur zufällig nach Gleichschaltung) stammt von ihm und umreißt sehr gut, diese Ideen, die von im Essay als Sozialphysik 2.0 beschrieben wird. Das ist ein sehr passender Begriff, wenn man bedenkt, dass dahinter nicht nur das Festhalten von Fitnessdaten steht, sondern die Idee komplexe Sachverhalte menschlichen Verhaltens über das körpernahe Erheben menschlicher Aktivitäten über Technologien zu erfassen und damit eine Art zweite oder gar dritte Ebene in die sozialen Beziehungen einzuführen. Als Beispiel (S. 44) wird die Idee zitiert, dass man damit z.B. sich anbahnende Konflikte in Unternehmen vorhersagen könnte um dann die Menschen so zu lenken, dass diese Konflikte gar nicht entstehen. Das ist in der Tat ein charmante Idee, mag man meinen, wenn man davon absehen würde, dass Konflikte essentiell für die Entwicklung von sozialen Beziehungen sind – es aber vor allem auf die Art ihrer Bearbeitung ankommt, nicht auf ihre ständige Vermeidung. Welcher Konfliktbegriff bei Pentland oder seinen Nachfolgern zugrunde liegt, darüber kann dann nur spekuliert werden.

Mit Sozialphysik und der Kybernetik (heute vor allem als Künstliche Intelligenz in der Diskussion) soll eine Art „weltumspannendes Nervensystem“ (S. 59) eingerichtet werden, die eine totale Vermessung menschlicher Verhaltensweisen im Sinn hat, um mit Hilfe der Technologie perfekte Gesellschaften zu bauen. Der Essay legt die Ideen klar dar, zeigt welche ideologischen Grundlagen hier bestehen und wo diese Ideen bereits in den digitalen Alltag Eingang gefunden haben. Auch wenn der Ton des Essays auf keinen Fall technikfeindlich ist, so ist die Kritik scharf, die Analyse dicht und auf den Punkt. Verführung so die Autor-innen, ist der Schlüssel zum Verstehen der Ausbreitung und der begeisterten Annahme solcher Technologien durch die Nutzer. Das ist das vielfach gemachte Argument im Anschluss an Deleuze, es passt aber gerade hier sehr gut. Ich würde ergänzen, dass die Verführung auch auf entsprechende Bedürfnisse stößt, die im Sozialen selbst zu suchen sind, in ihren Normen und Normalitäten. „Souverän ist, wer über den Normalzustand entscheidet“ (S. 75), ist daher nicht nur in Corona-Zeiten eine ungewöhnliche Abwandlung des Satzes, sondern ein entscheidender Hinweis in welche Richtung die Idee der Wearables geht. Sie zielt auf den Normalzustand ab, will Vorgaben für das „gute“ Leben machen, den Querschnitt der Daten, aus denen sich dann die Abweichung viel leichter herausfiltern lässt. So gesehen ist dann der Wunsch nach Privatsphäre tatsächlich nichts anderes als eine Abweichung, die sich den versprochenen Wohltaten der Googles und Co (Eric Schmidt ist ein häufiger Zeuge in dem Essay) entziehen möchte. Eigensinn in Zeiten der digitalen Optimierung wäre eine Störung ihres Geschäftsmodells und Allmachtsfantasien.

Der nur 110 Seiten (und mit einer für die Augen angenehm großen Typographie) Essay präsentiert mit der so zusammengefassten Analyse eine dichte Beschreibung der digitalen Welt, die noch nicht vollständig entfaltet, aber weithin absehbar ist. Angesichts der aktuellen Diskussion über Tracking-Apps in der Corona-Krise lässt sich leicht sehen, wohin die Entwicklung gehen könnte, wenn allen Versuchungen einer solchen Lokalisierungstechnologie gepaart mit Gesundheitsdaten, einfach so kompromisslos nachgegeben würde.

Reich an Ideen und mit Informationen und Bespielen ist der Essay die kurze Zeit wert, die es zum Lesen braucht. Die dadurch angeregten Gedanken reichen bestimmt darüber hinaus. Damit setzt sich „die Gesellschaft der Wearables“ von vielen Büchern ab, die nur erklären, warum es so schlimm ist, wenn jemand unsere Daten speichert und warum Datenschutz so wichtig ist. Darum geht es glücklicherweise nicht in dem Buch, sondern um viel mehr. Als philosophisch-kulturtheoretische Analyse konzipiert fehlen mir die Aspekte, die das Erleben dieser Technologien beschreiben könnten, also die technik-anthropologische Aspekte einer solchen Diskussion. Das aber wäre echte Erbsenzählerei, außerdem stellt der kleine Band gute Ideen für weitere Fragestellungen bereit.

Nils Zurawski, Hamburg