Polizeilicher Umgang mit Vorwürfen

Im Cilip Heft 134 (April 2024) findet sich ein sehr lesenswerter Artikel von Riccarda Gattinger, der sich mit dem Polizeilichen Umgang mit Vorwürfen auseinandersetzt. Sie schildert darin sehr nachvollziehbar die unterschiedlichen Reaktionen von Polizei auf Vorwürfe, insbesondere auf solche, die Rassismus und Diskrimierung adressieren und wie sie von Gattinger besonders beachtet werden. Als ergänzenden Vorschlag zu ihrem Artikel fiel mir eine kleine Skizze ein, die ich für mich verfasst hatte, die sich mehr oder weniger genau damit beschäftigt, vor allem damit, wie sich dieses Thema möglicherweise theoretisch rahmen ließe. Hier ist der Auszug, vielleicht für manchen eine hilfreiche oder einfach auch nur interessante Ergänzung.

Nils Zurawski

(Teile der Skizze werden demnächst in einem Aufsatz veröffentlicht, der im Band "Fehlerkultur", herausgegeben von Kai Seidensticker, den ich gemeinsam mit Jan Beek und Christiane Howe verfasst habe)

Zur Erklärung von Abweichungen, insbesondere dann, wenn das Interesse auf die Rationalisierungen der „Abweichen“ selbst gerichtet ist, bieten sich zum einen die Neutralisierungsthese von Sykes & Matza an (vgl. ebd. 1957), zum anderen Ansätze, die sich mit Narrativen beschäftigen, auch solchen, die keine an Sykes & Matza orientierte Erklärmodi nutzen. Die ursprüngliche Neutralisierungstheorie ist auf diesem Feld weithin erprobt und kann eine lange Theoriegeschichte und empirische Überprüfung vorweisen (vgl. für eine Review von 50 Jahren Neutralisierungsthese Maruna & Copes 2005). Sykes & Matza boten mit ihren Modi der Rationalisierung eine sehr eingängige Typologie zur Klassifikation verschiedener Verhaltensweisen an, die seitdem beständig weiter entwickelt worden sind. Ursprünglicher Fokus der Theorie war die Rationalisierung von abweichendem Verhalten im Sinne der Erklärung von Kriminalität. Es geht dabei um die Erklärungen und letztlich auch die möglichen Legitimierungen von Kriminalität, abweichendem Verhalten – letztlich werden damit Inkonsistenzen im Verhalten, im Denken und Handeln von Personen „zurecht“ gerückt und vor sich selbst sinnhaft gestaltet (vgl. dazu Maruna & Codes 2005, 222f; Zurawski 2021 in Bezug auf Gewalt). Die Erklärungen geben Handlungen Sinn, auch und gerade solchen, die von der Norm abweichen. Auch wenn das nicht der ursprüngliche Fokus der Theorie war, so wurde sie auch benutzt (neben modernen Kontrolltheorien), um abweichendes Verhalten durch Polizei und einzelne Polizist:innen zu untersuchen (vgl. u.a. Donner et al 2020; Hickman et al. 2001; Simpson & Kirk 2021). Zum-Bruch (2019) hat in ihrer Dissertation sehr umfangreich nachvollzogen, welche Formen abweichendes Verhalten annehmen kann, wie dieses in die Routinen der Organisation eingebettet sind, warum es so etwas wie nützliche Illegalitäten geben muss und diese, obschon sie eine Abweichung darstellen, auch stabilisierend für die Polizei sein können.

Maruna & Codes (2005) führen in ihrer kritischen Würdigung von 50 Jahren Neutralisierungsthese an, dass Sykes und Matza wesentliche Vorarbeiten wenig beachtet haben und sie seitdem von anderen eher nicht genug theoretisiert wurde, wenn auch häufig verwendet. Eher qualitative Forschung zu Abweichungen hat ihren Fokus auf die Narrative gelegt, also die Rekonstruktionen von Handlungen, die zu mehr oder weniger komplexen sozialen Strukturen gehören oder in diese eingebettet sind (vgl. Presser & Sandberg 2015, 10; auch Maruna & Codes 2005 zur Bedeutung von Narrativforschung in Bezug zur Neutralisierungsthese). Narrative, Erzählungen, auch, aber nicht nur im Sinne von Rechtfertigungen, hinsichtlich polizeilicher Arbeit, polizeilichem Berufsverständnis und auch Abweichungen, lassen sich in verschiedenen, eher moderneren Ansätzen finden, z.B. in Champion (2017) zu Polizeiidentität und -kultur oder van Hulst & Tsoukas (2021; auch van Hulst 2020) generell zur polizeilichen Fähigkeit sinnstiftender „Erzählarbeit“ im Job; weiterhin Macaulay & Rowe (2020) über die Verbindung von Erzählstrategien für die Produktion von polizeilichen Werten oder Kurtz & Upton (2017) und ihre Forschung zur Produktion von Polizeikultur in und durch Erzählungen von Kriminalität. Auf den Punkt gebracht bedeutet das „therefore, in paying close attention to the narratives of police and the cultural work accomplished through storytelling, we gain insight into the production and maintenance of
police authority and culture“
(end 2017, 539). P

Dieser kursorische Blick in die Forschung reicht aus, um festzustellen, dass das abweichende Verhalten jenseits Polizei-eigener Erklärungen die Forschung interessiert und auf verschiedenen Ebenen wichtig ist, um die Polizei sowie die Verhaltensweisen ihrer Mitglieder sowohl theoretisch weiter zu bearbeiten – als Institution, in ihrem generellen Handeln und über einzelne Schlagworte hinaus –, als auch konkret den Umgang mit Abweichungen nachzuzeichnen und ihre Bedeutung für die Arbeit und das professionelle Selbstverständnis zu begreifen. Die für mich essentielle Frage hier ist deshalb, wie über Abweichungen erzählt wird. Allerdings nicht mit dem Fokus auf die Abweichung als solche, sondern in Reaktion auf Kritik in Form von Beschwerden.

Referenzen (auch solche, die in dem Auszug nicht enthalten sind, aber in der kompletten Skizze)

  • Bucco, T. (o. J.). Polizisten als Täter – Zur Pflicht der Verantwortung. 54.
  • Champion, D. R. (2017). Policing as Myth: Narrative and Integral Approaches to Police Identity and Culture. 10(1), 13.
  • Crehan, A. C., & Goodman-Delahunty, J. (2019). Procedural justice and complaints about police. 7(1), 30.
  • Donner, C. M., Maskály, J., Jennings, W. G., & Guzman, C. (2021). Using criminological theory to explain police misconduct: A state-of-the-art review. Policing: An International Journal, 44(5), 818–837. https://doi.org/10.1108/PIJPSM-08-2020-0142
  • Feltes, T. (o. J.). Polizei und Kommunikation: Vom Umgang mit Problemen in, mit und durch die Polizei. 20.
  • Goodman-Delahunty, J., Verbrugge, H., Sowemimo, C., Kingsford, J., & Taitz, M. (o. J.). PROCEDURAL JUSTICE VIOLATIONS IN POLICE-CITIZEN INTERACTIONS: INSIGHTS FROM COMPLAINTS ABOUT POLICE. 17.
  • Grau, H. E., Piening, M.-T., & Singelnstein, T. (2022). Police Accountability: Neue Perspektiven auf Fehlerkultur, demokratische Einhegung und Kontrolle der Polizei. Neue Kriminalpolitik, 34(2), 159–174. https://doi.org/10.5771/0934-9200-2022-2-159
  • Harris, L. C. (2022). Breaking Lockdown during Lockdown: A Neutralization Theory Evaluation of Misbehavior during the Covid 19 Pandemic. Deviant Behavior, 43(7), 765–779. https://doi.org/10.1080/01639625.2020.1863756
  • Hickman, M. J., Piquero, A. R., Lawton, B. A., & Greene, J. R. (2001). Applying Tittle’s control balance theory to police deviance. Policing: An International Journal of Police Strategies & Management, 24(4), 497–520. https://doi.org/10.1108/EUM0000000006497
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  • Kühl, Stefan: Brauchbare Illegalität. 2020, Frankfurt: Campus.
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  • Sykes, G. M., & Matza, D. (1957). Techniques of Neutralization: A Theory of Delinquency. American Sociological Review, 22(6), 664. https://doi.org/10.2307/2089195
  • van Hulst, M. (2020). Ethnography and narrative. Policing and Society, 30(1), 98–115. https://doi.org/10.1080/10439463.2019.1646259
  • van Hulst, M., & Tsoukas, H. (2021). Understanding extended narrative sensemaking: How police officers accomplish story work. Organization, 135050842110268. https://doi.org/10.1177/13505084211026878
  • Zum-Bruch, E. I. (2019). Polizeiliche pro-organisationale Devianz: Eine Typologie. Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-27505-1
  • Zurawski, N. (2021) „Früher war alles … sicherer?“ Gesellschaftliche Sicherheit und die Sensibilisierung von Gesellschaft gegenüber Gewalt und deviantem Verhalten bei Jugendlichen. Ein Einwurf. Jahrbuch Pädagogik 2019: Innere Sicherheit. Berlin: Peter Lang, Download.