Rezension: Viren im Blick

Rezension: zusammen mit 

Kevin Hall. Viren im Blick. Überwachung und Sichtbarkeit der Influenza in Deutschland. 2021, Frankfurt/Main: Campus.

von Nils Zurawski, Hamburg

„Wie wir Dinge zählen, hat einen maßgeblichen Einfluss darauf, was wir mit den Zahlen machen können.“

Diese Bemerkung ist zentral im Buch von Kevin Hall und zugleich eine über seine Studie hinausgehende Feststellung. Nach fast 18 Monaten Corona-Pandemie, in der nicht nur wir in Deutschland gelernt haben mit immer neuen Kennzahlen zu operieren, um uns zu vergewissern, wie gefährlich die Welt draußen gerade sein könnte, sind gezählte Dinge, in diesen Fall Infizierte je 100.000 zu einer fast alles aussagenden Zahl geworden. Verstehen tun diese Zahl die wenigsten. Und noch Wenigere dürften nachvollziehen können, welcher Aufwand dahinter steht, solche Zahlen festzulegen und sie mit einem sinnvollen Inhalt zu füllen. Eine Bedeutung haben sie allein durch ihre administrative Verwendung und mediale Wiederholung, in der die Inzidenz zu so etwas wie einer täglichen Fieberkurve eines Patienten namens infizierten Gesellschaft mutierte.

Um hier einmal kurz abzuschweifen: Zahlen, Indikatoren, Maßeinheiten und ähnliche soziale Konstrukte sind die Elemente mit denen Regierungen Wissen erzeugen, wie die Herausgeber von „The World of Indicators. The Making of Governmental Knowledge through Quantification“ (2015) in ihrem Band sehr anschaulich machen. Was aussieht wie eine objektive Sammlung von Zahlen, ist ein komplexer Konstruktionsprozess sozialer Wirklichkeiten, im dem sowohl Wissensstrukturen, Wissensmöglichkeiten und administrative Macht zum Ausdruck kommen können. Darum geht es auch bei Corona – eine Feststellung die in der aktuellen Berichterstattung und den Debatten inmitten der Pandemie nie Beachtung fand und wohl auch kaum auf ein breites Verständnis, noch auf eine angemessene Rezeption gestoßen wäre. Das Thema wäre vor dem Hintergrund der aktuellen Pandemie einen eigenen Kommentar und weitere Gedanken wert.

Zurück zu Kevin Hall, in dessen Studie es um Corona nur ganz am Rande geht. Dafür geht es bei ihm sehr viel darum, wie so etwas wie ein Virus überhaupt als Krankheit gesellschaftlich sichtbar und epidemiologisch wirksam werden kann. Die auch in der Corona-Pandemie erzeugte einfache und vulgäre Sichtweise dürfte sich irgendwo entlang folgender Logik befinden: Viren werden im Labor gemessen, irgendwie. Man weiß wie ansteckend und gefährlich sie sind, auch irgendwas mit Labor. Dann kann man hochrechnen wie schnell eine Ausbreitung funktioniert, wieviele potenziell sterben und man kann gegebenenfalls entsprechende Maßnahmen einleiten. Alles ist wissenschaftlich, deshalb eindeutig und Fehler machen nur die, die nicht auf Wissenschaft hören. Wenn es doch so einfach wäre.

Kevin Hall zeigt anhand der Influenza, dass so eine Sichtweise falsch, töricht und im besten Fall zu kurzgegriffen wäre. Worum geht es also in seinem Buch, das zwar außer eine Randbemerkung zu Corona wegen der Aktualität bei Erscheinen, nichts zur aktuellen Pandemie sagt, aber vieles dazu in ein anderes Licht stellt. Worum also?.

Halls Studie bewegt sich zwischen Techniksoziologie, soziologischer Laborethnographie und STS-Ansätzen, um zu zeigen welch ein voraussetzungsvoller Prozess das Erkennen und Überwachen von Viren, Krankheiten und Epidemien insgesamt ist. Es geht um das was der Autor „Sichtbarkeitsregime“ nennt und im größeren Zusammenhang die Überwachung einer Infektionskrankheit und ihrer Auslöser. Dass der Begriff der Überwachung hier einmal sehr anders als im sonst üblichen (sozialwissenschaftlich-philosophischen) Kontext verwendet wird, ist wichtig zu erwähnen, dennoch geht es um Überwachung als eine „regelhafte und routinemäßige Tätigkeit“, mit der Muster und Abweichungen erkannt werden können. Nur dieses Mal eben nicht bezogen auf Menschen, sondern auf Viren. Dass diese Krankheiten auch Menschen betreffen und die Überwachungspraxen von ihnen durchgeführt werden, ist Grund genug dem mehr als nur eine flüchtige Aufmerksamkeit zu schenken.

Im Zentrum von Halls Studie steht, so der Autor selbst auf Seite 12, „die wissenschaftliche Produktion von Wissen und Technologien“. Weiterhin wie „Wissenschaftler die Präsenz eines neuen Virus im Labor sichtbar [machen]“. Hall hat die Grippe im Visier, eine fast alltägliche Krankheit, die mit beharrlicher Regelmäßigkeit wiederkehrt. Wie also wird, so der Autor, eine Krankheit und ihr Extremfall die Pandemie als ein kollektives Ereignis erfahrbar? (S. 13)

Mit den Methoden einer ethnographischen Feldstudie in Analyselaboren, wie sie Latour und Woolgar exemplarisch eingeführt haben und dem theoretischen Rüstzeug so verschiedener Ansätze wie Callons und Latours Soziologik der Übersetzungen, den Sichtbarkeitsregimen der Surveillance Studies (Krasmann, Bröckling, Hempel) oder Bowker und Stars Arbeit zu Klassifikationen (und noch vielen weiteren) präsentiert Hall eine enorm dichte, theoretisch aufregende Arbeit zu etwas, das zwar Teil eines gesellschaftlichen Alltages ist, aber niemand auch nur annähernd in dieser Komplexität im Alltag nachvollziehen würde. Eine Akteurs-Netzwerk-Studie, in der sowohl ein hohes Verständnis für die naturwissenschaftlichen Hintergründe als auch die soziologischen Theorien sichtbar werden, nicht zuletzt weil der Autor auch auf ein Biologiestudium zurückblicken kann. Und so geht es auch bei ihm um die Rolle von Indikatoren, welche eben Daten nicht in Reinform darstellen, sondern Zahlen als epistemisches Objekt (S. 42, auch S. 294ff zur Kulturtechnik des Zählens), womit eben diese Indikatoren auch Teil eines Regierungshandelns werden (S. 45, bei der Influenza, wie auch bei Corona, Anm. NZ).

Das Buch ist keine leichte Kost, auch wissenschaftlich nicht. Es berührt ethnographisch, methodisch und theoretisch so viele Felder, dass man konzentriert lesen muss. Das aber ist dann ein echter Gewinn, auch über den Influenzavirus hinaus. Somit gehört das Buch zu den aufregendsten Arbeiten in der aktuellen Pandemie, aber eben auch sonst. Die Prozesse sozialer Konstruktionen von Wissen, welches über administratives Regierungshandeln in Machtprozessen Anwendung findet, werden hier am Beispiel der Influenza, ihrer Wellen und daran anschließender Impfmaßnahmen beschrieben. Das, was in der Corona-Pandemie immer grob mit „objektivem Wissen der Wissenschaften“ umschrieben wurde, erhält eine Einordnung, denn das Wissen über Krankheiten ist kompliziert herzustellen und mehr als nur ein pharmazeutisch-biologischer Vorgang in einem Labor. Hier ist u.a. das Kapitel „Grippe zählen“ sehr aufschlussreich (S. 294ff). Wer in Ergänzung zu Kevin Halls interessanter Arbeit ein im besten Sinne populär-wissenschaftliches Buch hinzuziehen will, sollte Mark Honigsbaums „Das Jahrhundert der Pandemien“ lesen.(auf Deutsch erschienen 2021). Die historischen Betrachtungen haben nicht die gleichen Komplexitätstiefe der Beschreibungen Halls, aber man spürt und sieht förmlich die von ihm erforschten und analysierten Prozesse in jeder der verschiedenen Pandemien, die Honigsbaum nacherzählt.

Als Fazit kann ich die Arbeit von Kevin Hall nur empfehlen. Theoretisch und methodisch absolut hoch interessant und ein echter Mehrwert für viele Diskussionen zu Pandemien, zur Frage der Wissensproduktionen und auch zu Überwachung selbst, nicht zuletzt durch die Fokussierung auf Sichtbarkeitsregime, die auch in anderen Bereichen von Überwachung eine wichtige Rolle spielen.

Das letzte Wort hat hier der Autor, der am Ende des Buches sagt, dass es sein Ziel gewesen sei „eine andere, multiple Geschichte zeitgenössischer Überwachung zu erzählen“. Das ist ihm mehr als gelungen.

Ps. Mit Kevin Hall habe ich im April 2020 zu Beginn der Pandemie ein Interview in den Berichten aus Panoptopia geführt.