Rezension: Die Polizei

Rezension: zusammen mit 

Benjamin Derin, Tobias Singelnstein: Die Polizei. Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Inspektion einer mächtigen Institution. 2022, Berlin: Econ.

von Nils Zurawski, Hamburg

Ich habe selten das Problem, dass ich nicht genau weiß, wie ich ein Buch rezensieren soll. Hier ist so ein Fall. Was genau möchte ich rezensieren, was bewertet man überhaupt? Bei Belletristik ist es einfach: Gefällt mir ein Buch oder nicht und gebe ich eine Leseempfehlung? Letzteres kann ich in diesem Fall uneingeschränkt tun. Das Buch muss gelesen werden, weithin und nicht nur von Wissenschaftler:innen. Derin und Singelnstein entwerfen auf 388 Seiten Text (plus Endnoten) ein komplexes, differenziertes Bild von der Polizei (in Deutschland), welches in dieser Detailbreite und Themenvielfalt bisher selten zu finden war. Warum sie das tun, formulieren sie recht klar in der Einleitung, aus der ein Anspruch herausgelesen werden kann, was dieses Buch leisten möchte.

Dieser Anspruch könnte als eine Richtschnur für eine Rezension genommen werden. Was die Autoren nicht tun, ist zu sagen, an wen sich ihr Buch eigentlich richtet. Die wissenschaftliche Community allein ist es allerdings nicht, weshalb eine allzu kritische Lesart in dieser Richtung auch nicht ganz fair wäre – dennoch muss ich auch dazu eine Anmerkung machen, da der Umschlag des Buches das Wissenschaftliche hervorhebt und Günter Wallraff immerhin damit zitiert wird, dass mit dem Buch alle Argumente für eine „längst überfällige Polizeireform“ vorliegen würden. Das ist insofern gewagt, als die Aussage danach klingt, als würde „die“ Polizeireform in Deutschland weithin diskutiert, als wäre sie grundlegend und man wüsste wohin es dann gehen kann. Ehrlich gesagt gibt das Buch darauf keine abschließende Antwort, vielmehr gibt es in Kapitel 5.4 auf 14 Seiten einige Anregungen, wie man Polizei neu denken könnte.

Zurück zu den von den Autoren selbst gemachten Aussagen zu den Zielen des Buches. Ihr Ziel sei es „Polizei in all ihren Widersprüchen zu betrachten“ (S. 15). Damit wollen sie u.a die folgenden Fragen beantworten: zum einen wie ein von ihnen identifiziertes Unverständnis zwischen Gesellschaft und Polizei entstehen konnte; zum anderen wohin sich die Organisation in den kommenden Jahren entwickeln wird (S. 14). Dazu nehmen sie eine Inspektion der Organisation vor, wie der Untertitel es ja auch sehr treffend beschreibt. Und diesem letzten Anspruch werden sie voll und ganz gerecht. Wer sich nur oberflächlich mit Polizei beschäftigt hat, wer einfach mehr wissen möchte, wer sich nicht ohnehin wissenschaftlich mit dem Thema befasst, wird hier mehr als fündig. Das Buch entwirft auf der breiter Leinwand gewissermaßen ein enormes thematisches Panorama. Von der Innenstruktur der Polizei als Organisation, wobei es bis hin zu den Einkommenshöhen ins Details geht, über den auch in diesem Buch zentralen Begriff der Cop Culture, bis hin zu den vielfältigen Problemen, die in und mit der Polizei in der Gesellschaft bestehen, bleibt nichts außen vor. Zentral bei den Problemen sind, sicherlich auch geprägt von gegenwärtigen Debatten, die Themen Rassismus, Diskriminierung sowie der Umgang mit eigenen Fehlern bzw. organisatorischen Unzulänglichkeiten innerhalb der Polizei.

Sehr interessant ist insbesondere das Kapitel 4 „Polizei im Wandel“, in dem es vor allem darum geht, warum Polizei ihre Befugnisse immer weiter ausweitet, warum Polizei sich möglicherweise verselbstständigt und wieso das zu einer Gefahr für die Demokratie werden könnte. Die abschließenden Perspektiven (Kapitel 5) schließen daran an. Die Autoren diskutieren hier auch die beiden prominentesten Forderungen der radikalen Kritiker von Polizei, die entweder eine Verringerung ihrer Finanzierung fordern (defund) und somit auch einen Rückzug aus so manchen gesellschaftlichen Bereichen; zum anderen geht es um die Abschaffung (abolish) der Polizei. Auch hier zeigen sich die beiden Juristen als durchaus scharfe Kritiker, welche die Möglichkeiten des Diskurses aufzeigen, und diesen dann sehr klug im abschließende Kapitel weiterdenken, wenn sie die „Polizei neu denken“.

Das Buch kann ich nur empfehlen. Es ist ein wichtiger Beitrag um einen Einblick in Polizei in ihrer Breite und Komplexität, ihren Problemen und die für die Gesellschaft in diesem Zusammenhang wichtigen Fragen zu bekommen. Wer immer sich kritisch mit Polizei beschäftigt, insbesondere außerhalb der Wissenschaft, hier ist ein wichtiger Startpunkt.

Und dennoch gibt es auch Kritik an dem Buch, welches fast ausschließlich eher beschreibenden Charakter hat. Es besteht aus vielen Geschichten, die mal illustrativ, mal empirisch genutzt werden. Eine zusammenhängende theoretische Linie ist nicht zu erkennen bzw. wird erst sehr spät am Ende des Buches eingeführt, u.a. mit der aufgeworfenen Frage, wofür wir die Polizei wirklich bräuchten (S. 374). Das wäre eine herrliche Ausgangsthese gewesen. Eine von vielen möglichen.

Die These von der sozialen Ordnung als Leitrahmen und somit Handlungsmaxime der der Polizei (wie auch Kap. 1.3. überschrieben ist) durchzieht das Buch, wird aber m.E. zu wenig theoretisch weiterverfolgt. Was meint das genau, wie ist das organisationssoziologisch, eine Richtung, die auch von den Autoren angeführt wird, zu werten und wie genau ist Polizei theoretisch darin zu verorten. Der ebenfalls zitierte Max Weber hätte hier relativ einfach helfen können, denn dort ist Polizei der Erzwingungsstab einer Herrschaft. Eine, wie die Autoren anmerken, relativ moderne Version eines solchen Herrschaftsinstruments, aber als solche könnte man bei aller Diversität polizeilicher Aufgaben, die aufgeführt werden, die Institution Polizei sehr einprägsam und theoretisch scharf fassen können. Alle Fragen würden sich dann von dort ergeben, auch welche Probleme das in einer demokratisch verfassten Gesellschaft aufwirft, in der ja trotz alledem eine zentrale Herrschaft besteht – im Unterschied zu solchen Gesellschaften, die auf solche Instrumente verzichten. Interessanterweise verweisen Derin und Singelnstein auf Ansätze, die genau auf den Verzicht dieses Erzwingungsstabes (und anderer staatlicher Rechtsinstitutionen) setzen, nämlich eine Transformative oder Restaurative Justice (S. 366ff). In diesem Zusammenhang vermisst habe ich tatsächlich auch den Begriff bzw. die Figur der Gefahrengemeinschaft, denn gerade damit ließe sich sehr wohl die Cop Culture zu einem Teil veranschaulichen und die Besonderheiten von Polizei gegenüber anderen Berufsgruppen hinsichtlich ihres inneren Zusammenhaltes bis hin zu einer Abschottung gegen Kritik und Einflussnahme von außen erklären. Organisationssoziologisch als auch für Ansätze, die auf die professionelle Identität als theoretische Rahmungen fokussieren, wären hier anschlussfähig.

Ein Buch, dass von zwei Juristen geschrieben worden ist, soziologisch zu bewerten mag unfair und falsch anmuten – dennoch sind so viele soziologische Bezüge enthalten, dass ich nicht daran vorbei sehen kann. So sind manche Hinweise doch sehr verkürzt, wenn etwa über Bildungsgrad und Schicht geschrieben wird, dass bis in die 1970er Jahre die Polizei sich aus der Arbeitendenschicht rekrutierte (S. 101). Es scheint mir verkürzt, war es doch die Polizei, die zur Kontrolle der arbeitenden Massen einen wesentlichen Teil beigetragen hat und als solcher auch gesehen wurde. Es waren doch wohl eher die Kleinbürger, die sich über die Polizei einen sozialen Aufstieg versprochen haben. An dem auch von den Autoren angeführten Beispiel der nordirischen Polizei lässt sich genau das ebenfalls zeigen. Es war vor allem die protestantische Mittelschicht, die dort für „Ordnung“ sorgte und als Teil des protestantischen Herrschaftsapparat ganz klar eine sehr spezielle Aufgabe verfolgte, nämlich die Einhegung katholischen Widerstandes und der Aufrechterhaltung der protestantischen Herrschaft in Nordirland. Allerdings verkennt die Beschreibung der Auflösung der Behörde nach dem Belfaster Friedensabkommen von 1998, den Wandlungsprozess, der seitdem stattgefunden hat. Die neue Behörde wurde zum Police Service of Northern Ireland, es wurden neue Gesetze und Strukturen erstellt, das Personal blieb aber zunächst das alte. Die Zusammensetzung war auch in der PSNI noch überwiegend protestantisch (90% und mehr). Dieser Wandel brauchte Zeit und wurde durch neue Rekrutierungsstrategien und andere Maßnahmen begleitet. Heute sind noch immerhin 60% der Polizei protestantisch, nur 1% sind Minderheiten, die aus zugewanderten Menschen bestehen. Hier fand eine Polizeireform statt, keine Frage. Aber die Abschaffung hat über Nacht keine neue Polizei gebracht, sondern vor allem die Voraussetzungen für einen langfristigen Wandel, so viel Differenziertheit hätte ich mir hier dann doch gewünscht. Zu dem Wandel gehörte auch eine vollkommen unabhängige Beschwerdestelle, ein ebenfalls wichtiges Thema, welches in Deutschland zunehmend an Bedeutung gewinnt und auch Teil des von den Autoren geforderten Wandels ist.

Als letzten Punkt der Kritik möchte ich eine vermeintliche Ungenauigkeit in der Darstellung erwähnten. In Kapitel 3.1. Polizei und Gewalt, wird auf ein Video verwiesen, in dem ein 15-Jähriger niedergerungen wird und dann von der Polizei auf ihn „eingeschlagen“ würde. Letzteres gibt das Video (sofern wir das gleiche meinen) leider nicht her. Diese Aussage ist bestenfalls vage. Ich finde das ärgerlich. Damit will ich keine der beteiligten Polizist:innen in Schutz nehmen. Das Video ist ein Dokument polizeilichen Versagens, lange bevor der Junge auf dem Boden liegt. Es ist vor allem symptomatisch für eine polizeiliche Unzulänglichkeit angemessen zu reagieren, die Strategie möglicherweise zu wechseln, von einer „auf-den-Boden-Dominanz“ gegen Kontrollierte abzusehen, und welches sehr gut zeigt, wie Polizist:innen vollkommen verunsichert werden in einer Situation, die nicht so läuft, wie von ihnen antizipiert. Es könnte ein Lehrbeispiel sein. Aber dass der Junge verprügelt wird, gibt das Video (sofern wir das gleiche meinen) nicht her. Solche Kleinigkeiten wären aber wichtig. Ich hätte mir mehr theoretische Tiefe ausgehend von solchen Beispielen erhofft, sie bleiben aber in dem Buch oft nur Illustration.

Mein Fazit: Das Buch ist absolut ein Gewinn, weil es für ein breites Publikum die Struktur, Funktion, die Probleme und Ambivalenz der Institution Polizei sehr gut lesbar rüberbringt. Das Buch sollte ein breites Publikum haben. Das breite Publikum wird allerdings nicht die diskursiven und theoretischen Feinheiten vermissen, die eine wissenschaftliche Debatte wahrscheinlich viel eher in den Vordergrund stellen würde. Das macht nichts, darf aber nicht dazu führen, dass die Ambivalenz verschwindet, dass die theoretischen Betrachtungen zuungunsten der vielfach nur beschreibenden Analyse verschwinden. Und auch wenn das Buch nicht für uns Kollegen und Kolleginnen geschrieben worden ist, braucht es gerade deswegen auch unsere Bewertung, unsere Auseinandersetzung damit – denn Anregungen für eine weitere Theoriebildung zur Polizei, die auch wichtig ist, um sie im Sinne einer neu gedachten Institution zu reformieren oder weiter zu entwickeln, gehen auch von diesem Buch aus.

Wie das Buch schnell missverstanden werden kann, zeigt ein aktueller Artikel, ein Interview mit den Autoren, welches überschrieben ist mit der Schlagzeile „Diese Forscher haben untersucht, wie rassistisch die deutsche Polizei ist“ (Vice, 14.3.2022). Das ehrlich gesagt ist nicht Bestandteil des Buches und haben die beiden auch dort nicht untersucht – auch wenn Rassismus in der Polizei ein wichtiger Aspekt der Veröffentlichung ist.