Rezension: NSU-Komplex und Prozess

Rezension: zusammen mit 

NSU-Watch: Aufklären und Einmischen. Der NSU-Komplex und der Münchner Prozess. 2020, Berlin: Verbrecher Verlag.

von Christian Hammermann, Hamburg

Seit 2012 besteht die antifaschistische Initiative NSU-Watch, organisiert Veranstaltungen, schreibt Analysen und betreibt einen Podcast, um die Hintergründe des rechtsextremen Terrornetzwerks Nationalsozialistischer Untergrund aufzuklären und die Perspektive der Betroffenen zu stärken. Dazu hat sie über Jahre hinweg die verschiedenen Untersuchungsausschüsse und den Strafprozess in München protokolliert und kritisch begleitet. 2020 erhielt sie für ihr Engagement den Grimme Online Award, ebenfalls dieses Jahr erschien das Buch Aufklären und Einmischen. Der NSU-Komplex und der Münchner Prozess, in dem die Initiative die Erfahrungen ihrer Prozessbeobachtung aufarbeitet. Die Autor:innen reflektieren den Verlauf des Prozesses und was die am Prozess beteiligten Akteur:innen jeweils dazu beitrugen. Im Zentrum ihrer Darstellung steht die Nebenklage, mit der sich die Initiative parteiisch erklärt, also die Angehörigen und Überlebenden sowie ihre Anwält:innen. Danach widmet sich das Buch nacheinander den Angeklagten, der anklagenden Bundesanwaltschaft, dem Strafsenat, den Zeug:innen und der Öffentlichkeit.

Der NSU verübte zwischen 1999 und 2011 drei Sprengstoffanschläge, ermordete zehn Menschen – Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter – und beging über ein Dutzend Raubüberfälle, ohne sich öffentlich dazu zu bekennen. Für viele Angehörige und Überlebende waren nicht nur die Terroranschläge selbst verheerend, sondern auch die gesellschaftlichen Reaktionen, besonders diejenigen der Ermittlungsbehörden und der Medien. Diese verdächtigten vielfach die Ermordeten und kriminalisierten deren Angehörige, anstatt eine rechtsextreme Anschlagsserie auch nur ernsthaft zu erwägen (S. 28f.). Bereits 2006 demonstrierten Betroffene, die Rassismus für ein wahrscheinliches Tatmotiv hielten, unter dem Motto “9 Opfer – Wir wollen kein 10. Opfer”. Sie wurden aber, ebenso wie andere Hinweise auf mögliche rechtsextreme Täter:innen, bis zur Selbstenttarnung des NSU im November 2011 ignoriert (S. 39f.). Bei der Gedenkfeier des Bundestages 2012 versprach Angela Merkel, die Morde, Sprengstoffanschläge und Überfälle des NSU umfassend aufzuklären, ebenso wie die Bedingungen, unter denen diese über zehnjährige Terrorserie erst möglich wurde. Ihr Versprechen wurde nicht eingelöst. Stattdessen wurden die in am NSU-Komplex beteiligten Sicherheitsbehörden, allen voran die mit mehreren V-Leuten ins NSU-Netzwerk verstrickten Verfassungsschutzämter, vor allzu kritischer Betrachtung geschützt (S. 42f.).

Der Strafprozess am 6. Strafsenat des OLG München wurde gegen die einzige Überlebende des NSU-Kerntrios und vier Unterstützer aus dessen nächsten Umfeld geführt. “Für NSU-Watch”, resümieren die Autor*innen, “war von Beginn an klar, dass der Münchner NSU-Prozess keine umfassende Aufklärung des NSU-Komplexes leisten würde” und zwar schon deswegen nicht, weil die dem Prozess zugrundeliegende Anklageschrift bemüht war, das Ausmaß des NSU-Komplexes herunterzuspielen (S. 100). Die anklagende Bundesanwaltschaft fungierte im NSU-Prozess “als Hüterin der Staatsräson, besser noch: des Staatswohls” (S. 81). Um einen Vertrauensverlust in die staatlichen Exekutivorgane abzuwenden, versuchte sie, den Umfang des NSU-Netzwerkes auf dessen Kerntrio und einige wenige Unterstützer zu beschränken und das Fehlverhalten staatlicher Behörden soweit wie möglich auszublenden (S. 81f.). Dennoch hatten einige Nebenkläger:innen die Hoffnung, “dass es wider Erwarten doch ein anderer Prozess werden könnte” (S. 14). Auch hätte nach der Einschätzung von NSU-Watch der Strafsenat die Möglichkeit gehabt, der Engführung der Bundesanwaltschaft entgegenzutreten, weil er als zentrale Instanz des Strafprozesses diesen weitgehend gestalten konnte und insbesondere in der Beweisaufnahme über die Maßgaben der Anklageschrift hätte hinausgehen können (S. 102f.).

Tatsächlich hat der Senat in mindestens zwei Themenkomplexen seine Gestaltungsmöglichkeiten genutzt und ist vom Fokus der Anklage abgewichen. Zum einen im Falle des Verfassungsschützers Andreas Temme, der 2006 beim Mord an Halit Yozgat anwesend war, aber nichts davon mitbekommen haben will. Dazu vernahm das Gericht mehrere Zeug:innen und befragte auch Temme selbst durchaus kritisch. Obwohl seine Aussagen vage und ungereimt waren und dem Senat auch als solche auffielen, bewertete dieser sie schlussendlich als plausibel und blockierte die Anträge der Nebenklage, Temmes Rolle weiter aufzuklären (S. 105f.). Auch für die Vernehmung von Neonazis aus dem NSU-Netzwerk räumte der Senat zunächst mehr Raum ein, als die Anklage vorgesehen hatte. Dabei wurden aber vor allem Zeug:innen vorgeladen, die mit dem Kerntrio in Jena und Chemnitz vor dessen Untertauchen zu tun hatten und deutlich weniger, die während der Zwickauer Zeit im Untergrund mit dem Trio im Kontakt standen. Das so herbeigeführte Ungleichgewicht bestärkte also letztlich das Bild einer isoliert im Untergrund lebenden Terrorzelle (S. 107f.). “Insgesamt”, schreiben die Autor:innen, “entsteht der Eindruck, als habe der Senat die beispielhaft genannten Umwege (Themenkomplex Temme und Unterstützer:innen) lediglich genutzt, um nach außen den Anschein einer weitgehenden, sogar über das rechtsstaatliche Normalmaß hinausgehenden Aufklärung zu erwecken” (S. 111). Damit stehe aber auch fest, dass der Senat sich auch ernsthaft um eine über das strafrechtliche Normalmaß hinausgehende Aufklärung des NSU-Komplexes hätte bemühen können – dies aber nicht getan hat (S. 117).

Die als Zeug:innen geladenen Neonazis wollten sich und ihre Strukturen schützen, wozu sie im Wesentlichen zwei Abwehrstrategien verfolgten: Entweder behaupteten sie, sich an nichts mehr erinnern zu können, oder sie erklärten sich zu bloßen Mitläufer:innen, die eher wegen der Musik als wegen der Politik in rechtsextremen Szenen verkehrt hätten. “Zugegeben wurde oft nur, was ohnehin schon bekannt war” (S. 136). Dabei ist klar, dass der NSU nicht nur aus einem abgetauchten Trio bestanden haben konnte. Als sich das NSU-Kerntrio zum bewaffneten Kampf im Untergrund entschloss, folgte es nicht nur in der Neonaziszene diskutierten ideologischen Konzepte und bekannten praktischen Vorbildern, sondern hatte auch gute Kontakte, die durch ihre logistische Unterstützung das Abtauchen und das Leben im Untergrund überhaupt erst ermöglichten (S. 61). Lange vor der Selbstenttarnung des NSU verstanden andere Neonazis ebenso wie die Betroffenen, dass dessen Terroranschläge rechtsextreme, rassistische Taten waren (S. 75f.). Als die geladenen rechtsextremen Zeug:innen aber vor Gericht behaupteten, nichts gewusst zu haben oder sich nicht mehr zu erinnern, kamen sie damit weitgehend durch. Die Ordnungsmittel, die der Senat gegen nicht aussagende Zeug:innen hätte anwenden können, drohte er zwar manchmal an, verordnete sie aber nie (S. 140f.).

Das am 11. Juli 2018 mündlich verkündete Urteil fixierte sich auf das NSU-Kerntrio, erwähnte weder dessen rechtsextreme Ideologie noch Rassismus und sparte auch die Rolle des Verfassungsschutzes aus. Die bei der Urteilsverkündung anwesenden Neonazis jubelten, weil das größere NSU-Netzwerk nicht ausgeleuchtet wurde und weil selbst das das engere Umfeld des Kerntrios mit geringeren Strafen als erwartet davonkam. “Am Ende kommt die neonazistische Szene weitgehend unbeschadet aus dem Prozess heraus”, kommentiert NSU-Watch (S. 79). Viele Nebenkläger:innen waren vom Urteil enttäuscht (S. 192). Im gesamten Prozess konnten und mussten sich Angehörige und Überlebende immer wieder gegen den routinierten Ablauf durchsetzen, um ihre eigenen Erfahrungen zu schildern und zusammen mit ihren Anwält*innen die Erzählung vom isolierten Terrortrio zu hinterfragen und nachzubohren, welche Rolle staatliche Behörden bei der Ermöglichung der Terrorserie spielten (S. 44ff.): “Durch die Arbeit der Nebenklage wurde also verdeutlicht, was im Prozess fehlte, was er nicht leistete, wo er dem Aufklärungsversprechen nicht nachkam” (S. 46). Nach der Urteilsverkündung zog eine von Nebenkläger:innen und deren Anwält:innen angeführte Demonstration unter dem Motto “Kein Schlussstrich” durch München (S. 199f.):

“Kein Schlussstrich ist nicht nur eine Forderung sondern auch das Versprechen, mit dem NSU-Komplex nicht abzuschließen. Wir müssen dafür sorgen, dass bei der Aufarbeitung des rechten Terrors die Verantwortung der Täter:innen und auch der gesamten Strukturen, die die Taten erst ermöglicht haben, aufgeklärt werden.” (S. 205)

Weil das Gericht und die Bundesanwaltschaft dieser Aufgabe nicht mehr nachkommen werden, ist der eigentliche Adressat des Buches die politische und mediale Öffentlichkeit. Ohne sie hätte es den NSU-Komplex so nicht gegeben. Zum einen trugen Medien und Politik direkt zu der gesellschaftlichen Situation Anfang der 1990er Jahre bei, in der der NSU entstand. Nach dem Untergang der Sowjetunion schürten sie einen rassistischen Diskurs gegen Flüchtlinge, der die organisierte extreme Rechte und breite Teile der Bevölkerung zu vigilantischer Gewalt ermunterte. Die folgenden Angriffe, auch das tagelange Pogrom von Rostock-Lichtenhagen, wurden in der Berichterstattung wiederum entpolitisiert und als berechtigte Reaktionen auf politisches Versagen, Ängste und Frust dargestellt (S. 163f.). Zum anderen versagten viele Journalist*innen dabei, die polizeilichen Ermittlungen kritisch zu hinterfragen und das obwohl das NSU-Kerntrio nach seinem Untertauchen medial präsent war, weil es polizeilich gesucht wurde, und obwohl auch bekannt war, dass es über Sprengstoff und Waffen verfügte (S. 166f.). Zeitgleich wurde natürlich auch über die Mordserie berichtet, hierbei folgten aber die Medien weitgehend den Einschätzungen der Polizeibehörden, die ein rechtsextremes Motiv ausschlossen und einen Zusammenhang mit organisierter Kriminalität von Migrant*innen fantasierten. Ab 2005 setzte sich in der medialen Berichterstattung sogar die rassistische Bezeichnung “Döner-Morde” für die Anschlagsserie durch (S. 167f.). Auch hier spielte ein weit über die 1990er Jahre hinaus präsenter und immer wieder aufgefrischter rassistischer Diskurs um Migration eine Rolle, aber auch ein nationales Selbstbild, das Deutschland als geläuterte postnazistische Nation imaginiert und sich eine rassistische Terrorserie nicht eingestehen kann (S. 171f.).

Unmittelbar nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 fokussierte sich die Berichterstattung zunächst auf die Aufklärung des NSU-Komplexes und einige engagierte Journalist:innen arbeiten bis heute kontinuierlich dazu (S. 172f.). Als einen der wichtigsten Erfolge kritischer Öffentlichkeitsarbeit sieht NSU-Watch die Durchsetzung des Begriffs “NSU-Komplex”, der über die Verengung auf das Kerntrio hinausgeht und nicht nur auf den Netzwerkcharakter der Terrorgruppe hinweist, sondern auch auf die Mitverantwortung der Geheimdienste und des institutionellen und gesellschaftlichen Rassismus (S. 178f.). Dabei versteht sich NSU-Watch durchaus auch als selbstkritisches Projekt,

“[d]enn auch wir hatten den rassistischen Erzählungen von Polizei und Medien zu der Mordserie mehr Glauben geschenkt als den Worten der Angehörigen oder Teilen unserer eigenen Analysen, in denen wir vor der Möglichkeit solcher Arbeitsteilungen zwischen neonazistischer Selbstermächtigung und staatlicher Gewährung gewarnt hatten.” (S. 16f.) Auch die akademische Öffentlichkeit hätte hier einiges aufzuarbeiten, worauf Juliane Karakayali, Çagri Kahveci, Doris Liebscher und Carl Melchers bereits 2017 mit dem Sammelband Den NSU-Komplex analysieren. Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft hingewiesen haben. Aufklären und Einmischen. Der NSU-Komplex und der Münchner Prozess von NSU-Watch ist sicher kein akademisches Werk, sondern, wie die ganze Arbeit der Initiative, “zwischen Aktivismus und Journalismus angesiedelt – daher auch unser Motto ‘Aufklären und Einmischen’” (S. 178). Dennoch bietet das Buch einen durchweg empfehlenswerten Einstieg in die Beschäftigung mit dem NSU-Komplex und seiner juristischen Aufarbeitung, nicht zuletzt weil die Autor:innen ihre Einschätzungen durchgängig anhand der eigenen Prozessbeobachtungen begründen, die in Form detaillierter Protokolle auf der Website von NSU-Watch nachvollzogen werden können.