Rezension: Operative Porträts

Rezension: zusammen mit 

Roland Meyer: Operative Porträts. Eine Bildgeschichte der Identifizierbarkeit von Lavater bis Facebook. 2019, Konstanz: Konstanz University Press.

von Florian Flömer, Bremen

Bereits vor einem Jahr erschienen ist Roland Meyers Studie „Operative Porträts. Eine Bildgeschichte der Identifizierbarkeit von Lavater bis Facebook“ in vielerlei Hinsicht eine Bereicherung des nach wie vor sich weiterentwickelnden kunst- und medienwissenschaftlichen Diskurses um automatische Verfahren der Gesichtserkennung. Dabei ist seine Herangehensweise, die einer historischen Medien-Genealogie der Überwachungsbilder verschrieben ist, zunächst nicht neu. So haben etwa Susanne Regener oder Dietmar Kammerer auf die lange noch vor der Erfindung der Fotografie einsetzenden Bestrebungen zur Erfassung, Kategorisierung und Klassifizierung des Menschen hingewiesen. Eine weitere historische Dimension erhält die Arbeit Meyers durch die Diskursivierung des Begriffs des Porträts, als speziell kunsthistorischem Schlüsselkategorie. Neu an Meyers Ansatz ist die Verknüpfung dieser foto- und kulturtheoretischen Erkenntnisse mit den aktuellen Fragestellungen der surveillance studies im Zeitalter der Datafizierung, sowie durch die Diskussion der biometrischen Gesichtsbilder im Kreis der operativen Bildlichkeit. Hauptthese Meyers ist dabei, das die gegenwärtigen Überwachungsdispositive Bildermassen produzieren, die einer eigenen digitalen Logistik gehorchen und weltweit zirkulieren. In den operativen Porträts die uns die Überwachungstechnologien Tag für Tag abringen äußere sich ein deutliches Bestreben, den Menschen einer maschinellen Sehweise anzupassen und zum Objekt permanenter Auswertung, Vernetzung und Kontrolle zu machen.

Die Arbeit gliedert sich in vier Hauptteile, die jeweils einem thematischen Schwerpunkt gewidmet sind. Der erste befasst sich mit „Alben und Ähnlichkeiten“, also frühen archivarischen Praktiken und Bestrebungen, das Bild des Menschen zu kategorisieren und über Sammlungen in pseudo-wissenschaftliche Schemata zu erfassen. Als Ausgangspunkt für dieses Kapitel wird Johann Caspar Lavater als widersprüchliche Figur vorgestellt. Lavater, Vater der im 18. Jahrhundert enorm populären Physiognomie, wird dabei nicht allein auf sein Projekt des Gesichter-Lesens mit christlichem Hintergrund dargestellt, sondern vor allem, und das ist beachtlich, als frühen Medienunternehmer und Publizisten (S. 40). Lavater verfügte laut Meyer über ein ausgeprägtes postalisches Netzwerk, in dem er Silhouetten, Kupferstiche und Zeichnungen miteinander verschaltete und so eine prototypische Form der Bildzirkulation als Datenstrom generierte.

Lavaters Nachfolger in Meyers Argumentation ist der französischen Fotograf Adolphe-Eugène Disdéri, der als einer der ersten Atelier-Fotografen die Standardisierung des fotografischen Porträts vorantrieb und so laut Meyer Vorläufer für die späteren operativen Porträts der Überwachungstechnologien entwickelte. Lavater und Disdéri werden so als Vertreter einer neuen Ökonomie der Bilder gedeutet, die die Medien ihrer Zeit nutzten, um Bilder mobil und vergleichbar zu machen. Über Cesare Lombroso und Francis Galton, so argumentiert Meyer weiter, beginnt die systematische Vereinnahmung der Fotografie als Mittel der Statistik, des Vergleichens und der Kategorisierung von Menschen. Lombroso war der erste, der fotografische Alben und Karteien zur polizeilichen Identifizierung von Verbrechern anlegte und für seine Sammlungen Bilder und Daten aus ganz Europa verwendete. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte auch Galton, dem es jedoch primär nicht um die Kategorisierung von Verbrechern ging, sondern um das Aufzeigen von Familienähnlichkeiten im anthropologischen Sinne. Galtons Kompositfotografien werden als physiognomische Versuchsanordnungen gedeutet, die eine eigene Form der Bildstatistik in Gang setzte. Beide, Lombroso wie auch Galton suchten laut Meyer nach, „natürlichen Ordnungen“, die durch „technische Verfahren zugleich beglaubigt wie verstärkt werden“ (S.127) und in verdichteten Alben sichtbar gemacht werden.

Mit standardisierten Formen des kriminalistischen Porträts befasst sich der zweite Teil, der mit „Archive und Differenzen“ betitelt sit. Hier wird der französischen Anthropologe Alphonse Bertillon und dessen System zur Vermessung des Menschen als Schlüssel zur Sortierung der enormen Mengen an Datenbeständen beschrieben, die sich durch das rasante Wachstum der europäischen Städte um 1900 ansammelten. Dabei ist wichtig zu verstehen, das Bertillon nicht allein auf das fotografische Porträt setzte. Wie Meyer deutlich macht, etablierte Bertillon einen „operativen Blick“ (S.132) auf die Bilder, die er in umfassende schriftliche Protokolle einband und so erst zum „Sprechen“ brachte. Das portrait parlé Bertillons ist ein Komposit aus Bild und Verschriftlichung, das über die Zergliederung des Gesichts und seiner Merkmale Vergleichbarkeit und Wiedererkennbarkeit ermöglicht. Dem fotografischen Bild gegenüber stellt Meyer den Fingerabdruck als biometrisches Merkmal, das keiner Interpretation bedarf, sondern eben jene Verlässlichkeit als Bild verkörpert, die im Porträt vergeblich gesucht wurde. Die Standardisierung des Porträts findet ihren Höhepunkt dann für Meyer im modernen Passbild, das eine neue Vorstellung von personaler Identität etabliere (S. 206), aber offenbarte, das „die Beziehung des technischen Bildes zum lebendigen Gesicht ein höchst prekäre ist“ (S. 210) und jene „Krise der Ähnlichkeit“ einläutet, von der der dritte Abschnitt handelt. Hier steht jene Pluralisierung und Vervielfältigung des Porträts in künstlerischer wie in alltäglicher Bildpraxis der Jahrhundertwende im Mittelpunkt, die Meyer grundlegend als „Serialität“ fasst. Die „Krise der Ähnlichkeit“ wird, so Meyer von fotografischen wie filmischen Entwicklungen ausgelöst und vorangetrieben. Die nostalgische „Einheit des Porträts“, hier bezieht sich Meyer sehr aufschlussreich auf Georg Simmel, weicht einer Vielzahl an neuen Ansichten und Funktionsweisen des Porträts, welche er aus den Foto-Akten Alexander Rodschenkos oder August Sanders serieller Porträt-Sammlungen Menschen des 20. Jahrhunderts herausliest. Hieran schließt Meyer das „Warhol-Dispositiv“ an, jene „Totalarchivierung des Alltags“ (S. 34), die die Factory Warhols in performativen, multimedialen Testsituationen konstruierte. Hier löse sich die vornehmliche Einzigartigkeit des Porträts in endlosen Variationen auf (S. 311); Gesichter werden so zu flachen und entleerten Muster, die Reihen von „technische und sozialen Operationen“ entspringen.

Im abschließenden Teil werden mit Datenbanken und Muster jene Vervielfältigungs- und Dynamisierungstendenzen des Porträts in zunehmend digitalen Bildregimen in den Blick genommen. Die Akkumulation von Gesichts- und Profilbildern wird in der Zeit nach 1960 vor allem durch verbesserte Computertechnik vorangetrieben. Diese ermöglicht bereits in den 70er Jahren statistische Auswertung zur datenbankgestützten Terrorismusfahndung, in welchem das Gesichtsbild als Fixpunkt eines netzwerkartigen Gefüges ausgewertet wird. Stark ist hier die akkurate Nachzeichnung der technischen Entwicklungen der maschinellen Gesichtserkennung von den frühesten Versuchen in Japan (Nippon Electric Company), über die Eigenface-Analysen von Turk und Pentland hin zu Facebooks selbstlernenden Deepface-Algorithmus. Hier wird die Zurichtung des menschlichen Gesichts hin zu maschinenlesbaren und -auswertbaren Maske deutlich, sowie das Zusammenwirken von automatischen Überwachungstechnologien und Gesichtserkennung nachvollziehbar.

In Meyers Betrachtung werden die vielfältigen historischen Dimensionen, die den gegenwärtigen Überwachungstechnologien innewohnen schmerzlich deutlich. Zwar haben das vor ihm bereist andere getan – auch die von Meyer verwendeten Quellen zählen mittlerweile zum wohlbekannten Kanon einer kritischen Fotografieforschung – doch vor allem in der Fokussierung auf zeitgenössische Formen der Überwachung im Zeitalter der Digitalisierung gelingt es Meyer neue Erkenntnisse zu generieren. So macht er deutlich, wie sehr die Massen an Gesichtsbilder heute in komplexe Netzwerke und Datenströme eingebunden sind, die deren Speicherung und Auswertbarkeit nach den Gesetzen einer digitalen Logistik garantieren. Dabei ist das Gesicht zu einem „Anker zwischen analoger und digitaler Welt geworden, zu wiedererkennbaren Mustern, deren massenhafter Abgleich dazu dient, Aktivitäten in Datenräumen mit Bewegungen in physischen Räumen in Relation zu setzen“ (S.13). Operative Porträts sind nach Meyer hochgradig dynamische und maschinenlesbare Datensätze, die mit dem repräsentativen Porträt, wie es sich kunsthistorisch nach 1500 etablierte, nichts mehr gemein haben.

Abschließend lässt sich der eingangs geschilderte Eindruck bestätigen: Meyers Studie gelingt es gerade unter dem Blickwinkel der Bildlogistik und Vernetzung von Bilderströmen auch den altbekannten Texten neue Einsichten zu entlocken. Automatisierte Überwachungstechnologien arbeiten permanent an der Digitalisierung und Datafizierung des menschlichen Gesichts, Welche historische wie technische Dimension sich dahinter verbirgt, macht Meyers Arbeit umfassend deutlich.