Nils Zurawski: Raum – Weltbild – Kontrolle. Raumvorstellungen als Grundlage gesellschaftlicher Ordnung und ihrer Überwachung. Opladen/Berlin/Toronto: Budrich UniPress, 2014.
von Hanna Reichel, Halle-Wittenberg
Der Band „Raum – Weltbild – Kontrolle. Raumvorstellungen als Grundlage gesellschaftlicher Ordnung und ihrer Überwachung“ stellt die Habilitationsschrift des Ethnologen und Kriminologen Nils Zurawski dar und ist aus seiner langjährigen Arbeit am Hamburger Institut für kriminologische Sozialforschung erwachsen. Grundlegend beschäftigt Zurawski im Rahmen seiner Studie das „Dilemma der eigenen Verortung in einer nur zum Teil bekannten Welt“ (9). Jenseits aufgebracht-apokalyptischer Szenarien wird Überwachung von ihm nüchtern und in einem weiten Sinn gefasst als individuelle und gesellschaftliche Praxis zur „Orientierung in einer unübersichtlichen, ja gefährlichen Welt, welcher der Mensch allein gegenüberzustehen scheint“ (12). Die Konstruktion von Weltbildern, die konstruierende Kartierung von Raum und die gesellschaftlich entwickelten Praxen von Überwachung werden als abgrenzbare, aber durchaus überlappende Strategien des Umgangs mit diesem Dilemma verstanden und miteinander konzeptionell verschränkt. Leitende Einsichten sind dabei die Idee des konstruktiv-konstruierenden Umgangs mit dem Unbekannten sowie die Orientierung durch Visualisierung.
Überwachung, so die These, ermöglicht die Erschließung und Ordnung, Konzeptionalisierung und Kontrolle der Umwelt durch eine Form räumlicher Orientierung. Zur Erschließung der diesen Prozessen sowohl zugrundeliegenden wie auch aus ihnen erwachsenen Weltbilder setzt der Autor den Ansatz des cognitive mapping ein. Mit diesem Werkzeug werden sozial-räumliche Vorstellungen von Gesellschaft und ihrer Ordnung visualisiert, um so verdeckte Annahmen und ihre Konsequenzen offenzulegen, die wiederum Wahrnehmung von und Haltung zu Überwachungsdiskursen strukturiert. Zugleich wird die orientierende Kartierung durch cognitive mapping selbst als Instrument von Überwachungspraxen festgestellt, mit dem Deutungshoheit und Identitäten ausgehandelt werden.
Nach einer kurzen Einleitung (11–16) werden in drei Kapiteln theoretische Grundlagen erarbeitet. Ein Kapitel beschäftigt sich mit Weltbildern (17–64), die als „Überbrückung der konzeptuellen Lücken zwischen erfahrener und unbekannter Welt“ verstanden werden (82). Auf einen Forschungsüberblick folgen Überlegungen zu Raum als sozialer Größe, die in eine Darstellung des cognitive mapping sowohl als theoretischem als auch als methodischem Ansatz münden und für die Betrachtung von Überwachung als Orientierung in einer weitgehend unbekannten Welt fruchtbar gemacht werden sollen. Ein weiteres Kapitel (65–112) untersucht Kartierungsprozesse, ihre Beziehung zu Raumkonzepten, ihre Bedeutung in der Etablierung von Kontrolle und ihre Rolle in Überwachungszusammenhängen. Anschließend widmet sich ein Kapitel ausführlich dem Konzept und verschiedenen Praktiken der Überwachung (113–176) mit besonderem Schwerpunkt auf der Bedeutung von Videoüberwachung als räumlicher Kontrollstrategie sowie biometrischen Verfahren als mit Identität und Identifizierung befasstem Versuch einer „Vermessung des Inneren“ (163). Diesen theoretischen und konzeptuellen Grundlegungen folgt dann ein „Praxis“-Kapitel (177–216) zu einer qualitativen Studie, in der exemplarisch räumliche Wahrnehmungsprozesse im Zusammenhang mit der Diskussion um Videoüberwachung in verschiedenen Hamburger Stadtteilen untersucht werden. Zusammenfassende „Schlussbetrachtungen“ (217–224) runden den Band ab.
Zurawski hat eine ebenso ambitionierte wie weitreichende Arbeit vorgelegt, die verschiedene Konzepte, Theorien und Praxisbezüge ebenso kenntnisreich und erkenntnisstiftend miteinander ins Gespräch bringt. Hinzu kommt die Unterfütterung der weitgespannten konzeptionellen Bögen durch selbst erhobenes empirisches Material. Zurawski kommt dabei das besondere Verdienst zu, ebenso konstruktiv wie originell eine Vielzahl verschiedener Ansätze miteinander zu kombinieren und auf diese Weise auch Stimmen für Surveillance Studies fruchtbar zu machen, die über den Horizont der „üblichen Verdächtigten“ hinausführen. Dass er Überwachung in einem weiteren Sinne versteht statt nur als repressive, externe Maßnahme und sie dadurch auch nicht von vornherein negativ konnotiert ist, ermöglicht eine differenzierte und unaufgeregte Beurteilung ihrer Erscheinungsformen, Funktionen und Effekte. Auch die in verschiedenen Bereichen immer wieder konsequent festgestellten Dialektiken tragen zur Vermeidung von Einseitigkeiten bei, etwa was die aktive und passive Beteiligung der Subjekte in Prozessen von Kontrolle angeht oder die doppelte Funktion von Kartierungsprozessen zugleich als Quelle und Effekt von Weltbildern.
Das weite Feld der von Zurawski herangezogenen Gesprächspartner handelt ihm aber auch einige Probleme ein. Zum einen können bei dieser Breite viele Theorieansätzen nur oberflächlich oder in einzelnen Pointen einbezogen werden, was immer wieder den Eindruck von Eklektizismus hinterlässt. Eine Reduktion der Vielfalt hätte hier zu mehr Tiefenschärfe führen können. So fällt Zurawski in der Notwendigkeit, sehr viele verschiedene Fäden gleichzeitig in der Hand zu behalten, oft im weiteren Verlauf der Diskussion hinter die Tiefe gewonnener Erkenntnisse wieder zurück, die nur noch abgeflacht und schematisch wieder aufgenommen werden. Auch wenn von der Grundkonzeption her ein ebenso ambitionierter wie aber auch schlüssiger gemeinsamer Nenner für die verwendeten Schlüsselkategorien gefunden wird, sind die einzelnen Kapitel teilweise sowohl konzeptuell nur lose verbunden als auch dennoch inhaltlich überlappend und argumentativ redundant, wichtige Begriffe werden oft mehrfach eingeführt (und dabei nicht selten verschieden gefüllt).
Aber auch der Eindruck gewisser Brüche bleibt nicht aus. Insbesondere bleibt die Verbindung der ausführlichen Theoriekapitel mit der Auswertung der empirischen Studie letztlich prekär. Sollen die theoretischen Erkenntnisse aus der Studie ableitbar sein oder sich in ihr wiederfinden, so muss man zum einen eine enorme Auf- und Überladung von deren Ergebnissen konstatieren, zum anderen lassen sich viele der theoretischen Verknüpfungen und daraus gewonnenen Erkenntnisse aus der Studie gerade nicht belegen oder werden in ihr gar nicht wieder aufgegriffen (so etwa die Ausführungen zur Biometrie). Dazu kommt ein gewisser Perspektiv- bzw. Subjektwechsel bei der Schlüsselfrage der Überwachung: Während Überwachung im Theorieteil als weltbild-relevante Orientierungsstrategie in einer unbekannten Welt parallel zu etwa Kartierung figuriert, ist sie in der praktischen Studie nicht eine orientierung-stiftende Aktivität der befragten Subjekte, sondern eine ihnen externe Praxis der Videoüberwachung, zu der sie (auch noch überwiegend kritisch) Stellung nehmen. So hätte man dem Buch eine auf theoretische Verschlankung, konzeptionelle Straffung und argumentative Stringenz zielenden Überarbeitung noch ebenso gewünscht wie ein Lektorat mit sorgfältigerer sprachlicher und stilistischer Korrektur.
Insgesamt ist diese spannende Arbeit aber unbestreitbar durch ihre Breite und Tiefe sowie ihre Originalität und Kraft zur Verknüpfung vielfältiger und neuer Reflexionsräume und Denkansätze ein Gewinn für jeden, der der Bedeutung von Überwachung in einer unübersichtlichen Welt ernsthaft nachdenkt und nach neuen konzeptionellen Perspektiven in den Surveillance Studies Ausschau hält.
Hanna Reichel
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg