Ann Rudinow Sætnan, Ingrid Schneider, and Nicola Green: The politics of big data. Big data, big brother? Oxon/New York, Routledge Research in Information Technology and Society, 2018
von Ulrike Höppner, Berlin
Sammelbände, zumal solche, die aus Konferenzen und CfP entstehen, teilen einige fundamentale Schwächen: sie bleiben meist eklektisch, es fehlt eine zusammenhängende Vorstellung der Grundbegriffe und im Regelfall fehlen wichtige Themen. Auch dieser Band entgeht dem nicht. Insbesondere das Fehlen zentraler Themen wie “gender, race and sexual orientation” (12), also gerade im Hinblick auf die möglichen Diskriminierungswirkungen von Big Data wichtige Aspekte, ist eine gravierende und, wie ich denke, auch vermeidbare Schwäche. Das gleiche gilt für die unzureichend reflektierte Beschränkung auf europäische Perspektiven, die nicht nur nordamerikanische Betrachtungsweisen, die sich oft stark unterscheiden, sondern auch aus dem Globalen Süden stammende oder zumindest die dort bestehenden spezifischen Probleme aufgreifende Forschung außen vor lässt. Das ist schade. Aber erstens ist leider das Thema Big Data eben in den Sozialwissenschaften immer noch eher ein catchword und schlecht definiert und damit vielleicht noch nicht weit genug entwickelt für eine wirklich systematische Analyse. Und zweitens weiß man das ja bevor man das Buch in Händen hält. Insofern lohnt sich bei der Beschäftigung mit diesem Sammelband eine umfassende Kritik an diesen erwartbaren Schwächen nicht. Stattdessen will ich darüber sprechen, warum und wofür er dennoch ein guter Beitrag sein kann.
Big Data as a political perspective
Das erste Kapitel versucht, die Beiträge des Bandes mit einer gemeinsamen Perspektive zusammen zu binden. Dazu dient einerseits die, hinreichend allgemeine, Definition von Big Data als:
“the collection and aggregation of large masses of (publicly, commercially, prprietarily, and/or illicitly) available Data and its analysis, largely in the form of pattern-recognition and predictive analysis.”
Es lohnt durchaus die Erinnerung daran, dass Big Data eben nicht zuallererst ein politischer, sondern ein technischer Begriff ist. Big Data wird richtigerweise als erst einmal neutral (S. 1) und erst in der Interaktion mit sozialen Systemen als politisch aufgeladene Technologie eingeführt. Das zweite Element der gemeinsamen Perspektive ist denn auch eben diese politische Aufladung, deren Betrachtung allen Beiträgen zugrunde liegen soll. Diese Betrachtung nun erfolgt auf sehr unterschiedlichen Analyseebenen, was sich auch in der Dreiteilung des Bandes niederschlägt. Während der erste Teil theoretisch-konzeptionelle Beiträge enthält, widmen sich die anderen beiden eher konkreten Einzelfragen, einmal im Hinblick auf Governance und Regulierung (Part II) und andererseits mit Blick auf Praktiken, Performanz und Widerstand, eine stärker individualistische Perspektive also (Part III).
Im ersten Teil werden Prinzipien und Paradigmen dargelegt, zur Begrifflichkeit Big Data selbst (Rudinow Sætnan), zu wichtigen ethischen Fragen (Matzner), zu Big Data als Teil der Securitization-Debatte (Strauß) und schließlich zu Big Data und Surveillance (Matzner). Besonders die ersten beiden Beiträge fokussieren darauf, Big Data nicht nur als Buzzword zu verstehen, sondern eine genauere und differenziertere Betrachtung der politischen Implikationen von Big Data zu ermöglichen. Nicht in allen Beiträgen des Bandes wird dieser hohe theoretische Anspruch auch umgesetzt, aber allein die in diesen Beiträgen gelungene konzise Darstellung zentraler Fragen, die nicht jedem Neuling bekannt sind und nicht in jeder Expertendebatte beachtet werden, ist lohnenswert. Man merkt den theoretischen Beiträgen an, dass aktiv versucht wird, einen Brückenschlag zwischen den technischen Definitionen und Aspekten von Big Data und den für Sozialwissenschaftler relevanten Fragen zu präsentieren und über weite Strecken gelingt das sehr gut.
Die theoretische Stärke und differenzierte Betrachtung von Big Data als spezifischem Problem und nicht einfach als Synonym für Digitalisierung im Allgemeinen setzt sich in den weiteren Teilen des Buches nicht ungebrochen fort. Mit der Hinwendung auf konkrete Problem gewinnt die sozialwissenschaftliche Sprache und Perspektive wieder eindeutig die Oberhand und die Differenzierungen der unterschiedlichen Aspekte von Big Data treten in den Hintergrund. Hier ist den Autor+Innen nur bedingt ein Versagen vorzuwerfen. Noch immer hält sich in den Sozialwissenschaften hartnäckig die (meines Erachtens falsche) Überzeugung, die politischen Probleme der “Digitalisierung” ließen sich auch gut ohne fundiertes technisches Verständnis der Zusammenhänge analysieren. Die empirischer orientierten Beiträge leisten, wenn nicht einen umfassenden, so doch einen breitgefächerten Einblick in die unterschiedlichen empirischen Problemlagen.
Rieder und Schneider beschäftigen sich mit den “sociotechnical imageries” (Rieder) und dem Zusammenhang zwischen “Big data Capitalism” und Regulation (Schneider) in der Europäischen Union. Pasquale untersucht Policies der Regulierung von Big Data in der “Public Sphere”, Simoes/Jerónimo diskutieren Privacy und Big Data und Tondel/Sætnan betrachten die Wirkungen der Edward Snowdon Enthüllungen auf den Überwachungsdiskurs. Die Beiträge bieten somit eine große Bandbreite an Themen – ein gemeinsames theoretisches Framework gibt es aber nicht. Auch Big Data selbst wird in den Beiträgen teilweise sehr unterschiedlich verstanden.
Der Trend hin zu einer simplen Gleichsetzung von Big Data und Digitalisierung verstärkt sich noch im dritten Teil, in dem es ja stärker um konkrete individuelle Praktiken und Widerstandsformen geht. Die Beispiele selbst sind durchweg interessant und lesenswert: Bellanova/Gonzalez Fuster zu Netflix, Fleischhack zu Datentrainings in Schulen, Ochs zu Informationeller Selbstverteidigung und Norman et al zu Open Data. Allerdings handelt es sich bei allen Beispielen um ausgesprochen spannende Themenfelder und allein der Versuch, sie unter ein gemeinsames Dach zu bringen, ist anzuerkennen.
Annäherungen an eine amorphe Debatte
Der vorliegende Sammelband vereint gelungene Versuche der technisch informierten Theoretisierung des Buzzwords Big Data für die Sozialwissenschaften mit einer, bis auf die oben benannten Leerstellen, spannenden Vielfalt an Fallbetrachtungen auf ganz unterschiedlichen Analyseebenen. Big Data bleibt dabei über weite Strecken des Buches ein Buzzword. Aber aufgrund der theoretisch fundierten Beiträge am Anfang ist es sowohl für Einsteiger als auch für bereits etwas Erfahrenere im Themenfeld ein durchaus lohnenswertes Buch. Wer also beispielsweise einen Einführungskurs in “Technology and Politics” zu geben hätte, würde in diesem Band einige geeignete Texte finden. In dem Maße, in dem sich das Feld weiter differenziert, wird sich sicher auch die Debatte weiter differenzieren und auch weil die technologische Entwicklung voranschreitet, wird der Band in einigen Jahren an Relevanz verlieren. Der Versuch einer stärkeren Theoretisierung, technischer Verankerung und Fokussierung der Debatte ist aber ein für die Sozialwissenschaften notwendiger Schritt, zu dem der Band einen Beitrag leistet.