Rezension: Muster (2)

Rezension: zusammen mit 

Nassehi, Armin (2019): Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: C.H. Beck.

von Simon Egbert, Hamburg

Armin Nassehi verfolgt in seinem Buch ‚Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft‘ ein ebenso hehres wie überfälliges Ziel: „eine soziologische Theorie der digitalen Gesellschaft“ (S. 11) zu formulieren. Im Zuge dessen möchte er sich von den aus seiner Sicht gängigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Analysen zur Digitalisierung absetzen, indem er analytisch einen Schritt früher ansetzt und die Digitalisierung nicht als gegeben voraussetzt – wie es seiner Meinung nach die meisten, insbesondere die kritischen, sozial- und kulturwissenschaftlichen Forscher*innen täten (S. 12ff., 26) –, sondern stattdessen die Frage erörtert, für welches gesellschaftliche Problem die Digitalisierung eine Lösung bereitstellt (S. 12). Die „gesellschaftsstrukturelle Radikalität des Digitalen“ (S. 14) würde von den meisten Kommentar*innen nämlich nicht wahrgenommen, da die von ihnen analysierten und kritisierten Praktiken vor allem „sekundäre Folgen“ der Digitalisierung darstellten (S. 15). Ebendiese Radikalität herauszuarbeiten ist denn auch das Hauptziel seiner Analyse, im Sinne einer gesellschaftstheoretischen Einbettung der Digitalisierung (S. 26).

Nassehi folgt dabei einer funktionalistischen Analyseperspektive, die weder Problem noch Lösung als gegeben voraussetzt und fragt, für welches gesellschaftliche Problem ein bestimmtes Phänomen aus welchen Gründen eine Lösung – verstanden als erfolgreiche Herstellung von Anschlussfähigkeit – darstellt (S. 17f., 29f.). Bezogen auf die Digitalisierung folgt daraus die bereits erwähnte Leitfrage, für welches Problem die Digitalisierung eine gesellschaftliche Lösung ist (S. 12). Daraus wiederum folgt als Unterfrage: „Welche Dispositionen der Moderne sensibilisiert sie für eine Technik, die so ist wie der Digitalisierung (…)? Was war an der (…) gesellschaftliche Moderne womöglich vorher schon ‚digital‘, damit die Digitaltechnik darin jenen Siegeszug antreten konnte, den man tatsächlich nicht auf die Intentionen der Macher dieser Technik zurückführen kann (…)?“ (S. 17) Die Antwort, die Nassehi auf diese Fragen gibt, ist dabei ebenso simpel wie einleuchtend: Die moderne Gesellschaft, ihres Zeichens funktional differenziert, mithin komplex und schwer zu überblicken, folgt spezifischen Regelmäßigkeiten, die als gesellschaftliche „Eigensinn“ bzw. „Widerständigkeit“ tituliert werden (S. 28) und deren hintergründigen Muster – daher der Buchtitel – durch digitale, algorithmische Techniken detektierbar werden und auf diese Weise Handlungsoptionen angesichts gesellschaftlicher Komplexität generieren. Kurzum: „Das Bezugsproblem der Digitalisierung ist die Komplexität und vor allem die Regelmäßigkeit der Gesellschaft selbst.“ (S. 28, 36ff.)

Kundige Leser*innen werden die systemtheoretische Grundhaltung bereits erkannt haben, der Nassehi in seiner Analyse folgt. Leider wird dies erst recht spät in dem Buch, konkret: auf S. 166ff., kenntlich gemacht. Insbesondere da das Buch auch nicht-soziologische Leser*innen ansprechen soll – wie zumindest die zahlreichen Wiederholungen der Kernthesen nahelagen –, erfolgt diese theoretische Einordnung für meinen Geschmack deutlich zu spät, nicht zuletzt auch deshalb, dass die konstatierte strukturelle Ähnlichkeit von moderner Gesellschaft und Digitaltechnik vor allem auf binäre Codierung fokussiert (S. 152) – freilich ein Kernkonzept der Systemtheorie.

Nichtsdestotrotz kann der Hauptbeobachtung, dass die Digitalisierung ein Phänomen ist, dass sich im Kern um Musterhaftigkeit dreht, nur zugestimmt werden. In der Tat sind gegenwärtige Entwicklungen rund um die Digitalisierung, die ja zu großen und wirkmächtigen Teilen aus algorithmischer Datenanalytik besteht, deren Ergebnisse dann als Entscheidungen bzw. Entscheidungshilfen in gesellschaftliche Praktiken Eingang finden (S. 134), nicht adäquat zu verstehen, wenn man deren musterhaftes Fundament nicht gezielt (mit-)beleuchtet. Mit Bezug auf Praktiken der prognosebasierte Polizeiarbeit (Predictive Policing) habe ich dies bereits gemeinsam mit meinen Kolleg*innen Mareile Kaufmann und Matthias Leese zu verdeutlichen versucht, in dem wir Muster als „epistemischen Kern“ von Predictive Policing analysiert und im Zuge dessen auf die notwendige Regelmäßigkeit von Zusammenhängen hingewiesen haben, die von Algorithmen in (Kriminalitäts-)Daten entdeckt werden müssen, um überhaupt sinnhafte wie prognostizierbare Resultate erheben entdecken zu können. Selbstverständlich geht Nassehi im Vergleich dazu einen entscheidenden Schritt weiter, indem er die komplexe Musterhaftigkeit der Gesellschaft insgesamt zum analytischen Ausgangspunkt macht und damit die rasante Verbreitung von digitalen Techniken in der modernen Gesellschaft zu erklären versucht. Ein Versuch, der überzeugt.

Auf eine Inkonsistenz in diesem Zusammenhang sei dennoch hingewiesen. Auf S. 42 heißt es: „Digitale Praktiken werden zwar als disruptive (…) Erscheinungen diskutiert, aber sie verweisen exakt auf das Gegenteil, auf die merkwürdige Stabilität des gesellschaftlichen Gegenstandes, seine Musterhaftigkeit und seine Struktur.“ Während die Aussage für sich genommen korrekt ist, geht die dabei aufgemachte Frontstellung zwischen diskutierten Disruptionen einerseits und gesellschaftlicher Musterhaftigkeit anderseits nicht auf, da hier auf (In-)Stabilität auf unterschiedlichen Ebenen rekurriert wird. Ich kann in meinem Alltag freilich durchaus digitalisierungsinduzierte Veränderungen wahrnehmen und sie als solche adressieren und trotzdem die musterhafte und auf gesellschaftliche Stabilität verweisende Grundlogik dahinter in Rechnung stellen. Die veränderte Alltagserfahrung rührt ja gerade daher, dass durch digitale Techniken die unterschwelligen Regelmäßigkeiten nun erhebbar werden und sie dadurch Veränderungen evozieren, da deren Resultate praktisch berücksichtigt werden.

Durchaus missverständlich formuliert, nichtsdestotrotz korrekt beobachtet ist im Zuge dessen ferner die These von der Verdoppelung der Welt durch Daten (33f.; 108ff.). Mit Verdoppelung ist dabei gerade nicht – wie man bei dem Begriff durchaus vermuten könnte – die wirklichkeitsgetreue Abbildung der Welt in Datenform gemeint, sondern gerade die spezifische Perspektive auf die Welt, die siche in Daten zeigt. Daten wird mithin eine Eigensinnigkeit zugerechnet, die einen spezifische verzerrten Blick auf die Realität impliziert: „Die Datentechnik kann nur Muster vorfindgen – aber nicht Muster der Welt, sondern Muster der Welt in der Form ihrer Datenförmigkeit.“ (S. 106) Und weiter heißt es: „Sie [Datensätze, S. E.] kennen nicht die Welt, sondern nur sich selbst, und verdoppeln die Welt doch mit dem, was sie tun.“ (S. 107) Angedeutet ist damit einer der aus meiner Sicht soziologisch relevantesten Digitalisierungseffekte, wonach die algorithmische Bearbeitung der Welt stets auf Basis einer spezifischen datenförmigen Wahrnehmung operiert, die sich systematisch von der Realität unterscheidet und für die betroffenen Personen – die als spezifisch perspektivierte „data doubles“ adressiert werden – erhebliche (positive wie negative) Konsequenzen haben kann.

Die weiterführende These Nassehis, „dass die moderne Gesellschaft bereits ohne digitale Technik in einer bestimmten Weise digital ist“ und „die Digitaltechnik (…) letztlich (…) die logische Konsequenz einer in ihrer Grundstruktur digital gebauten Gesellschaft ist“ (S. 11; Hervorh. i. O.), überzeugt, im Gegensatz zur These der Musterhaftigkeit, weniger. Diese These ist nämlich nur deshalb zu formulieren möglich, da mit einem (zu) weiten Begriff des Digitalen operiert wird, der gleichsam jede Form der systematischen Zählens als eine Form des Digitalen zu apostrophieren im Stande ist. Das Digitale wird dabei konkret verstanden als „die Verdoppelung der Welt in Datenform mit der technischen Möglichkeit, Daten miteinander in Beziehung zu setzen, um dies auf bestimmte Fragestellungen rückübersetzten.“ (S. 33f.) Der Prozess der Digitalisierung, so Nassehi ergänzend auf S. 71, heißt die Übertragung in „eine codierte Form von Zahlen und Größen“ (s. a. S. 70). So wird denn auch die Entstehung der amtlichen Statistik als Urahne der Digitalisierung verstanden (S. 32) und Big Data als „Vervollkommnung der Statistik aus dem 18. Jahrhundert“ beschrieben (S. 316). Dabei stimmt es fraglos, dass Quantifizierungen die Grundlage für jegliche moderne Verfahren der Datenanalyse – von data mining zu machine learning – bilden (weshalb ich, nebenbei gesagt, gemeinsam mit meinem Kollegen Chris Grieser, für eine stärkere Nutzung von Ansätzen der Quantifizierungssoziologie in der Digitalisierungsforschung plädiere). Den Begriff des Digitalen dann aber für alle solche Verfahren zu nutzen, ist mit erheblichen analytischen Kosten verbunden, kann dadurch doch die Spezifik des gegenwärtigen Digitalisierungsschubs nicht mehr trennscharf erfasst werden.

Diese breite Fassung des Digitalisierungsbegriffs steht ferner tendenziell im Widerspruch mit einer weiteren, erneut überzeugenden Grundthese des Buchs: Jener, dass die Digitalisierung als vorranging technisches Phänomen zu verstehen ist (S. 16), mithin die technischen Entwicklungen in den letzten Jahren dazu geführt haben, dass in hohe Geschwindigkeit große Datenbestände ausgewertet werden können, was ebenso die Fähigkeit zur Musterentdeckung potenziert sowie die Integration ihrer Resultate in Alltagspraktiken breit ermöglicht hat. Nassehi folgt dabei „einer techniksoziologischen Intuition“, die besagt, dass „Technik und Gesellschaft nicht unterschiedliche Größen sind, sondern Technologien und Techniken nur dann erfolgreich sein können, wenn sie anschlussfähig genug für die Struktur einer Gesellschaft sind.“ (S. 16) Im Prinzip ist dies die systemtheoretisch gewendete Grundthese der science and technology studies, in denen seit Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre die Untrennbarkeit von Technik und Gesellschaft diskutiert wird. Auf Grund der zahlreichen Literatur zu dem Thema hätte man sich schon gewünscht, dass Nassehis Behandlung dieser These über eine „Intuition“ hinausgeht und mehr einschlägige Autor*innen behandelt werden als nur Latour und Rammert. Dass dies dem Buch durchaus gut getan hätte, merkt man spätestens dann, wenn Nassehi mit Niklas Luhmann die Spezifik von Technik als „funktionierende Simplifikation“ (S. 205) versteht und die Erfolgsformel von technischer Ausbreitung allein in ihrer Funktionsfähigkeit gesehen wird – weil sie funktionieren, breiten sich Techniken aus (S. 207). Dies mutet in seiner Formelhaftigkeit technikdeterministisch an, ist es doch stets eine offene Frage, was Funktionsfähigkeit für die jeweiligen Beteiligten überhaupt bedeutet. Spätestens mit dem Social Construction of Technology-Ansatz wissen wir doch, dass es immer unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, wie ein technisches Artefakt beschaffen sein sollte, wann es wirklich als funktionstüchtig zu gelten hat und welche Kriterien dafür erfüllt sein müussen. Mit Bezug auf die von Nassehi so gescholtenen Digitalisierungskritiker*innen, die sich um Datenschutz und Privatsphäre sorgen, könnte man in diesem Zusammenhang beispielsweise argumentieren, dass aus ihrer Sicht eine Software gerade nicht funktioniert, da wenn sie zwecks Problemlösung auf datenschutzrechtlich problematische Datenbestände zugreifen muss.

Alles in allem jedoch birgt die Lektüre des Buchs zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine soziologische Analyse der Digitalisierung. Dies jedoch vor allem auf der Ebene von Gesellschaftstheorie. Mikrosoziologische Analysen lassen sich daraus auf Grund der argumentativen Höhe daraus nur bedingt ableiten. Dies gilt noch stärker für Analysen zu Praktiken der Kontrolle und Überwachung, die durch die Digitalisierung fraglos forciert werden, für die sich der Autor zum einen nicht wirklich interessiert – was für sich genommen freilich legitim ist –, zum anderen wenig konstruktiv begegnet, indem die Idee von Privatheit als gleichsam idealistisch abtut, da es eine solche ohnehin nie gegeben hätte (S. 305ff.).

Simon Egbert, Hamburg

siehe auch eine weitere Rezension zu "Muster"von Nils Zurawski, März 2020.