Zur Selbstbeobachtung der Gesellschaft…

Überwachung durch Selbstbeoachtung – oder umgekehrt?

Es gibt derart viele Beiträge zur gegenwärigen Situation, dass eine Auswahl oft schwerfällt. Viele sind interessant, manche regen an, über bestimmte Aspekte ein wenig weiter nachzudenken. Bei manchen habe ich das Gefühl, die könnten hier im Blog von Interesse sein. So auch dieser hier von Armin Nassehi, der gerade sehr präsent in den Medien ist.

Ein Aspekt, den er dabei sehr gern und immer wieder betont ist der von der Selbstbeobachtung der Gesellschaft – das gilt in Bezug zur Digitalität der Gesellschaft, als auch hinsichtlich Corona. Und klar hat jeder so seine Argumente und theoretischen Spielfiguren. Bei Nassehi sind es halt oft systemtheoretische. In einem Artikel in der Frankfurter Rundschau kommt dann auch mal beides zusammen.Armin Nassehi: „Es ist eine digitalisierte Selbstbeobachtung der Gesellschaft“ (FR, 24.4.2020)

Warum ich die These bzw. den Begriff der Selbstbeobachtung so interessant finde, liegt daran, dass ich mich frage, ob man die Figur auch für Überwachung verwenden kann. Ist die Gesellschaft, inbesondere eine moderne, nach Nassehis Maßstäben eine immer schon digitale, damit von vornherein eine Überwachungsgesellschaft. Ich würde das in mancher Hinsicht bejahen, wenn Überwachung mit dem Festhalten der Muster (Nassehi), der Bürokratisierung und Datensammlung durch (staatliche und parastaatliche) Herrschaftsinstitutionen bedeutet. Ob man dafür eine andere Beschreibungen als Überwachung und Kontrolle braucht, sei dahin gestellt. Was den Gedanken so charmant macht, ist dass damit die generelle Tendenz der Überwachung in Gesellschaften beschrieben werden kann, und die Argumente nicht an irgendwelchen Technologien festmacht. Zum anderen wird damit deutlich, wie Gesellschaft sich gegenwärtig im digitalen Alltag mit einer Selbstverständlichkeit beobachtet, dass der Begriff Überwachung analytisch richtig ein mag, in den Praktiken aber durch ein anderes Erleben der Technologien diese Bedeutung gar nicht mehr vorkommt. Die Selbstbeoachtung ist Teil von Gesellschaft, ich würde sagen, im digitalen Alltag so selbstverständlich, dass der besondere Charakter nicht mehr zu erkennen ist. Die Tracking-Apps, da bin ich mir ziemlich sicher, würden, wie auch immer sie gestaltet sein werden, ein Erfolg, da es einfach eine App mehr wäre, die im Alltag den Alltag erleichtert, abbildet, ihn erst ausmacht und somit Teil davon ist, als Teil einer ohnehin vollzogenen Selbstbeobachtung. Es wäre einfach ein weiteres Ding mit dem Überwachung konsumiert würde.

Nun aber zu den zwei Argumenten aus dem Interview, die ich jetzt hier einmal besonders rausgreifen möchte, und die über die Überwachungs-Selbstabeobachtungsfrage hinaus auch für sehr interessant sind. Das erste Zitat ist folgendes:

Es zeigt sich, dass gerade in Zeiten grundlegender Krisen eine Gesellschaft ohne Staat und ohne staatlich garantierte Infrastrukturen nicht überlebensfähig ist. Das gilt für die Pandemie, für die Klimafrage, aber auch für andere Bereiche. 

Dem würde ich als absolutes Argument auf jeden Fall widersprechen wollen. Es gilt für unsere Gesellschaften, die sich arbeitsteilig und funktional differenziert organisiert haben, in denen große Teile gesellschaftlicher Macht auf den Staat übertragen wurden, der damit eben auch zu dem Akteur wurde, ohne den dann nichts mehr geht. Zumal in einer bürokratisch organisierten Gesellschaft, in der eine Verwaltung die legitime, rationale Herrschaft übernimmt und dazu mit den entsprechenden Mitteln ausgestattet ist – u.a. Polizei, aber auch entsprechende Mittel (im Idealfall, hier kann es durchaus hapern, wenn finanzielle Mittel fehlen oder anderweitig entwendet werden, das aber ist ein anderes Thema). Dass auch ein solcher Staat auf andere Organisationsformen angewiesen ist, insbesondere um Krisen zu überstehen, kann in der Absolutheit, wie das Argument geäußert wird, leicht untergehen. Und ja, es gibt herrschaftsfreie Institutionen, in denen Mechanismen der Konsenbildung anders organisiert sind. Ob sie besser oder schlechter auch im Fall der Krise funktionieren, hängt von vielen Aspekten und Rahmenbedingungen ab (ein paar Argumente habe ich im Artikel Krise, welche Krise angerissen). Aber dass gesellschaftliche Selbstorganisation auch in Staaten mit einer zentralen Herrschaft notwendig sind, diese auf jeden Fall kontern und ein notwendiges Gegengewicht bereitsstellen, darf daüber nicht vergessen werden. Ob zentrale Herrschaft auf jeden Fall notwendig ist, um Gesellschaft zu organisieren, ist alles andere als abgemacht.

Das zweite Argument, auf das ich aufmerksam machen möchte, ist dieses hier:

Es hat im 20. Jahrhundert auch solche Epidemien gegeben wie die Hongkong-Grippe in den 1960er Jahren, die unzählige Tote nach sich zog. Trotzdem kann sich kaum jemand daran erinnern. Es wirkte wie ein Stück Natur, das von außen schicksalhaft eingriff. Man glaubte, nichts dagegen tun zu können. Wir sehen das nun zwar auch als Natur, beobachten das Geschehen aber in Echtzeit. Wir sind auf Infektionszahlen fixiert, von denen wahrscheinlich keine einzige stimmt. Wir beobachten das nun nicht mehr als Natur, sondern als Ergebnis gesellschaftlicher Praktiken

Der Vergleich, den Nassehi hier macht, ist zentral. Denkt man die Entwicklung der Wahrnehmung von Pandemien weiter (Natur-Gesellschaft), dann stellt sich durchaus die Frage nach dem Verhältnis der beiden und insbesondere was Technologie damit zu tun hat. U.a. so, würde ich behaupten, ist die Technologie und der technologische Fortschritt ein Mittel um dem Schicksal der Natur zu entkommen. Das hat aber einen Preis – u.a. den Klimawandel –, vor allem aber die häufige Unfähigkeit Gesellschaft als Teile einer Ökologie zu erkennen und damit die Zusammenhänge und Abhängigkeiten, die zwischen dem was wir Natur nennen (aber oft eher Kultur ist) und dem was wir Gesellschaft nennen und davon getrennt ansehen. Corona macht auf diese Abhängigkeiten aufmerksam, sehr deutlich und vollkommen ungerührt. Es scheint, dass eine Perspektive, die den Virus als das Schlüsselproblem ansieht, verkennt, dass es dem Virus vollkommen egal ist, wie wir uns organisieren. Gesellschaftliche Organisationsformen sind mehr oder weniger ideal um sich gegen den Virus zu wehren, um seine destruktive Wirkung für uns abzumildern. Vielleicht aber müssen wir auch mehr danach fragen, und darauf achten, dass Gesellschaft Teil einer Sozialökologie ist und “Natur” nicht die Bühne von Gesellschaft. Nein, der Virus ist nicht die Strafe für menschliches Verhalten. Das ist Unsinn. Aber menschliches Verhalten hat einen solchen Virus möglich gemacht und vor allem dessen Verbreitung – nicht zuletzt entlang den Mustern menschlicher Aktivität auf dem Globus, wie diese Karte sehr anschaulich zeigt:

Collecting the Maps That Will Define the Pandemic, Citylab

Aber wohl auch der Umgang mit den globalen Ressourcen und der Umwelt (im Sinne von Ökologie und Natur, nicht systemtheoretisch) sowie deren Wahrnehmung fordert neue Fragen heraus – die Corona-Krise scheint mit eine gute Gelegenheit dazu zu sein.