Andrew Guthrie Ferguson: The Rise of Big Data Policing. Surveillance, Race, and the Future of Law Enforcement. New York University Press, 2017.
von Nils Zurawski, Hamburg
Wer möchte nicht wissen, was morgen auf einen zukommt? Gerade dann, wenn es sich um etwas Unangenehmes handeln würde. Gleich ob Tarot-Karten, Kaffeesatz oder Glaskugel, der Wunsch das Schicksal vorauszusehen, ist groß und vor allem nicht neu. Was man dabei immer bedenken sollte, auch wenn die Verfahren zur Vorhersage eher Wunsch als Wissen ausgaben, dass Deutungen der Zukunft die Gegenwart verändern. Denn mit dem (auch nur vermeintlichen) Wissen über das Morgen, würden wir uns ja heute bereits anders verhalten – so sieht es auch Ferguson: Predictions have consequences (S. 85). Nun aber gibt es Big Data und es soll alles anders werden – glaubt man den Apologeten der massenhaften Datenanalyse, die zumeist ein neues Geschäftsmodell – das der Datenanalyse – anpreisen wollen, denn tatsächlich die Zukunft vorhersagen können. Dass die Polizei die Verbrechen von morgen schon heute wissen wollen liegt in der Natur der Sache. Spätestens seit der Verfilmung von Philip K. Dicks Kurzgeschichte “Minority Report” ist das Thema auf der Agenda der Strafverfolgungsbehörden und wird auch in die Tat umgesetzt. Möglich machen es die massenhaft vorliegenden Daten, die im Zuge der Digitalisierung des Alltages anfallen und die mit gegenwärtiger (und zukünftiger) Computertechnologie schneller und besser ausgewertet werden können denn je. Grundlegend für die tatsächlichen Vorteile von Big Data ist tatsächlich der Umstand, der in dem Zitat beschrieben wird, dass Kapitel 1 des Buches vorangestellt ist: “The world is full of things which nobody by any chance ever observes” und das Arthur Conan Doyle seine Figur Sherlock Holmes feststellen lässt.
Andrew Guthrie Ferguson nimmt eine gründliche und äußerst kluge Analyse des so genannten predictive policing vor, also der Technologie der auf Big Data fußenden “vorausschauenden Polizeiarbeit”. Als Rechtsprofessor geht es ihm dabei nicht nur um die Technologie oder die soziologischen und kriminologischen Aspekte, sondern vor allem um eine juristische Abwägung, ob und wie von dieser neuen Art der Polizeiarbeit der 4. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten betroffen ist. Dieser lautet:
The right of the people to be secure in their persons, houses, papers, and effects, against unreasonable searches and seizures, shall not be violated, and no Warrants shall issue, but upon probable cause, supported by Oath or affirmation, and particularly describing the place to be searched, and the persons or things to be seized.
Hier werden die Grund- und Persönlichkeitsrechte beschrieben, ein wenig analog zu verschiedenen Artikeln im Deutschen Grundgesetz. Der Bezug wird von ihm im Verlauf der Analyse immer wieder hergestellt, was zur praktischen Relevanz und Anwendbarkeit der Analyse beiträgt. Dass dadurch der Fokus der Analyse sehr stark auf den USA liegt, muss man beim Lesen in Kauf nehmen. Dennoch lassen sich viele der angesprochenen Aspekte auch auf die in Deutschland gestarteten Modellversuche übertragen und die Fragen nach den Konsequenzen sowieso.
Fergusons Analyse folgt einem simplen, aber sehr überzeugenden Muster. Er schaut kapitelweise darauf wie Big Data die Polizeiarbeit beeinflusst, dabei den Fragen folgend: Whom we police? – Where we police? – When we police? – How we police?
Er berücksichtigt dabei die sozialen, räumlichen und zeitlichen Aspekte von Polizeiarbeit sowie deren Qualität als solche. Es geht ihm als nicht bloß darum, was Technik kann, sondern was die Konsequenzen für eingeübte Praktiken sind, wenn diese durch Technik ergänzt werden. Und er schaut auf die Polizeiarbeit als solche, die ein Schlüssel zum Verstehen der Notwendigkeiten ist, mit denen Polizei und Justiz umgehen müssen, u.a. dem Druck, Erfolg nachweisen zu müssen.
Ein Schwerpunkt der Analyse sind die möglichen Diskriminierungen, die durch die Algorithmen verstärkt werden. Auch wenn Algorithmen nicht von sich aus rassistisch oder diskriminierend sind, so können sie bestehende Vorurteile, die sich in den eingespeisten Daten und den Auswertungsregeln wiederfinden lassen, verstärken, auch wenn die Kategorie race kein für die Algorithmen wichtiges Datum ist. Die starke Segregation der Wohnbevölkerung macht ein Verweis auf die Identität der Beteiligten unnötig, denn die ist fast ebenso sicher über eine Wohnadresse festzustellen bzw. zu kategorisieren, als wenn man sie angeben würde. Ferguson spricht in diesem Fall auch von Black Data – ein Begriff den er für drei sich überlappende Aspekte benutzt, die im Zusammenhang mit Daten-orientierter Polizeiarbeit wichtig sind, nämlich für race (im Sinne von Identität), Transparenz sowie für die Verfassungsgesetzgebung. Damit spricht er einen Aspekt an, der besonders für die Polizeiarbeit in den USA von Belang ist. Dass heißt nicht, dass es keine Diskriminierung hierzulande gibt, aber die besondere Situation in den USA lässt sich so einfach nicht übertragen.
Das gilt auch für den Aspekt der Waffengewalt, die einen besonderen Fokus in der Analyse, aber eben auch in der Anwendung von predictive policing hat. Beim Lesen kann einem durchaus der Eindruck kommen, dass eine Lösung der Waffengewalt nicht in der Anwendung von Big Data liegt, sondern in der politischen und gesetzlichen Lösung des Waffenproblems. Big Data erkundet Korrelationen und sich daraus ergebende Risiken für bestimmte Bevölkerungsgruppen entweder Opfer solcher Gewalt oder eben ein Täter zu werden. Ein Wegfall der Waffen (leichter gesagt als getan, zugegeben) würde das Problem auf ganz andere Weise lösen. Und genau dieses Problem der professionellen Blindheit spricht Ferguson auch weiter hinten in seiner Analyse an. Fern davon eine Pauschalkritik von Big Data-Analysen zu machen, lotet er auch die Möglichkeiten aus, Big Data zur Verbesserung polizeilicher Arbeit intern, zu ihrer Kontrolle zu nutzen, oder auch um zu anderen Lösungen zu kommen, als zu solchen, die die Polizei benötigen (siehe Kap. 9. Bright Data). Dass die Begeisterung der Polizei für diese Technik so groß ist, ist nachvollziehbar. Die Probleme auf die die Risikoanalysen durch Big Data hinweisen, könnten u.U. auch durch andere Maßnahmen angegangen werden, z.B. Städtebau, Sozialpolitik und -arbeit. Ebenso sieht er Big Data als Möglichkeit weniger punitive Mittel zur Lösung sozialer Probleme einzusetzen. Polizei sollte sich auf Polizeiarbeit konzentrieren und nicht den Missstand von Sozialpolitik beheben wollen. Seine Beispiele für diese Art der Gesellschaftskritik sind eindringlich und überzeugend, was auch für das Buch und die präsentierte Analyse spricht.
Fazit
Anders als der Film Pre-Crime, der doch sehr pauschal und reißerisch das Phänomen des predictive policing zeigte, präsentiert Ferguson hier eine exzellente, rechtssoziologische Analyse, die sowohl die Probleme aufzeigt, die mit der Technologie verbunden sind, aber vor allem die gesellschaftspolitischen Hintergründe erkundet, die eine allzu große Begeisterung über die “Vorhersagen der Zukunft” verdecken. Seine Buch endet mit einer ernüchternden Vorhersage im Sinne einer Einschätzung. Ferguson hält Big Data für geeignet Risiken besser vorherzusagen und einzuschätzen, aber nicht dafür Lösungen zu finden, die sich eben nicht auf die Polizei konzentrieren (S. 201). Sicherheit, so die alte Erkenntnis, ist nicht nur das Geschäft der Polizei und Sicherheitsbehörden, auch wenn sie (oft irreführend) so genannt werden, sondern betrifft alle gesellschaftlichen Akteure und geht über Polizeiarbeit hinaus. Das ist heute wichtiger als es jemals war.
Das Buch ist wohl die derzeit beste Analyse zu predictive policing, denn sie stellt die besten Fragen und zeigt detailliert, wo die Denkfehler der begeisterten Fans und Anwender liegen.
Nils Zurawski, Hamburg