Frederic Lemieux: Intelligence and State Surveillance in Modern Societies: An International Perspective. 2018, Emerald Publishing.
von Jonas Grutzpalk (Bielefeld)
Als ich im Juni 2003 meinen Dienst als Referent für Öffentlichkeitsarbeit beim Verfassungsschutz Brandenburg antrat war mir nicht klar, was das eigentlich für eine Behörde ist, was sie tut, welche Ziele sie verfolgt, warum der Gesetzgeber sie eingerichtet hat, welchen sachlichen Zwängen sie gehorcht etc. Das Geraune meiner Freunde (“zweitältestes Gewerbe der Welt”, “Geheimdienst”, “Meinungspolizei”) machte die Sache nicht besser. Und als ich die Behörde sechseinhalb Jahre später in Richtung Fachhochschule verließ, stellten sich mir noch immer die gleichen Fragen, ohne, dass ich wesentlich klüger geworden wäre als zuvor.
Die wohl wichtigste Frage, die sich bei Nachrichtendiensten stellt, ist die nach dem Wissensmanagement, denn ihr Wesenszweck besteht ja gerade darin, Wissen zu sammeln, auszuwerten, weiterzugeben und Handlungsoptionen aus ihm abzuleiten (S. 7). Zwar wird immer wieder gesagt, Geheimdienste seien nun einmal Geheimdienste, deswegen sei ihr Wissen auch geheim – aber wenn wir mal ehrlich sind, dann weiß doch jeder, was mit Geheimnissen in der realen Welt passiert: entweder sind sie gar nicht sonderlich geheim, sie werden herausposaunt oder schlicht vergessen (erst neulich konnte ich mich bei aller Liebe nicht mehr an das geheime Versteck der Weihnachtsgeschenke erinnern).
Es fehlt der wissenssoziologische Biss
Die Frage nach dem Wesen der Geheimdienste mit Verweis auf das Geheimnisvolle zu beantworten ist allenfalls tautologisch – zurecht reiht Lemieux das Orakel in die geheimnisumwitterte Geschichte des Nachrichtendienstwesens ein (S. 2), beantwortet aber nicht die Frage, was dieses Dienste da eigentlich genau tun. Auch Lemieux mogelt sich m.E. um die entscheidende Frage nach der Qualität geheimdienstlichen Wissens herum, wenn er zwar eingesteht, dass Wissen immer interpretationsabhängig ist (S. 20), er die weitergehende Frage nach dessen Nutzen in eine ethische Frage auflöst und hierbei zu dem Schluss kommt: „surveillance of our societies can be both positive and negative“ (S. 21). Hier – und nicht nur hier – wäre dem Buch ein wenig mehr Biss zu wünschen gewesen.
Eva Horn hat schon 2007 auf die epistemische Nacktheit der Geheimdienste hingewiesen, als sie schrieb: „Geheimdienstliche Daten, Hypothesen und Theorien entstehen, zirkulieren und vergehen in der Abgeschlossenheit nachrichtendienstlicher Frageinteressen.“ Mit anderen Worten: des Kaisers neue Kleider sind … gar keine. Wissenssoziologisch betrachtet ist überhaupt nicht nachvollziehbar, wie Wissen in Nachrichtendiensten entsteht, da akademische Hinterfragungs- und Korrekturprozesse hier allenfalls simuliert werden können. Lemieux sieht das Problem – übrigens auch an anderer Stelle, wo es um den häufig miserablen Wissensaustausch zwischen Sicherheitsbehörden geht (S. 116) – sehr deutlich, lässt aber m.E. die Nachrichtendienste allzu leicht vom wissenssoziologisch-kritischen Haken.
Gibt es eine Nachrichtendienstethik im Big-Data-Zeitalter?
Das ist umso ärgerlicher als das gerade das Data-Mining ja ein Phänomen ist, durch das Nachrichtendienste in den letzten Jahren ins Gerede gekommen sind. Das Leben im Big Data-Zeitalter bedeutet, so viele Daten wie nie zuvor sammeln, horten und nach schlüssigen Zusammenhängen durchsuchen zu können. Dass Nachrichtendienste das tun würden, war nur eine Frage der Zeit und kann nicht wirklich verwundern (Kapitel 6). Was ihre Leitfragen sind, wohin sie mit dem hier gewonnen Wissen kommen wollen und welche Konsequenzen ihr Wissen hat ist auch Gegenstand nachrichtendienstlich-ethischer Überlegungen, die Lemieux im Kapitel 9 vorträgt und die ich als Verfassungsschützer gerne gekannt hätte. Nachrichtendienstethik sollte in der Tat ein Fach sein, mit dem man sich in der Ausbildung beschäftigen sollte. Allerdings sind die ethischen Probleme, die Lemieux hier in den Bewertungskreis mit einbezieht für deutsche Verhältnisse mehr als verblüffend: so fragt er sich u.a. nach dem ethischen Wert heimlicher Killerkomandos (S. 210). Da Nachrichtendienste in erster Linie Nachrichten bearbeiten, sollten sich solche Frage m.E. nur im Notfall stellen. Wichtiger bleibt es, sich um den Verbleib des Wissens zu kümmern, das in Nachrichtendiensten angehäuft und verarbeitet wird.
Fleißiges Zusammentragen
Dringliche Fragen nach der Epistemologie nachrichtendienstlichen Tuns beantwortet das Buch von Frederic Lemieux aber nicht. Was er tut, ist das zu liefern, was er im Titel des Buches verspricht: Nachrichtendienste und Überwachung in modernen Gesellschaften zu beschreiben, wobei es bei der gewählten Breite des Themas auch bei einer Beschreibung bleiben muss. Unter „modernen Staaten“ fasst er namentlich westliche Demokratien zusammen, schwerpunktmäßig beschäftigt er sich aber mit den so genannten “five eyes”-Staaten Canada, Vereinigtes Königreich, Neuseeland, USA und Australien. Das Kapitel 2 “National Security Intelligence in the Five Eyes Countries” sieht dabei aus wie Hausarbeiten meiner Studierenden, die sie im Grundstudium anfertigen.
Das liegt daran, dass Lemieux durchgehend Material nutzt (und nutzen muss), das er von offiziellen Websites oder aus Zeitungsartikeln bekommt und so zitiert er seitenweise eine URL nach der nächsten. Dass man auf diese Weise nicht hinter die Kulissen blicken kann und offizielle mission statements selten mit der Wirklichkeit eines Betriebes in Kausalzusammenhang stehen, weiß Lemieux auch – dennoch ist es schon interessant, welche Aufgaben die Staaten ihren intelligence communities zurechnen. So sieht Canada eine der Hauptaufgaben seiner Sicherheitsbehörden im souveränen Umgang mit Naturkatastrophen (S. 40), Neuseeland sieht die Sicherung von Fischereirechten in gleicher Prioritätshöhe wie die Abwehr von Terrorismus (S. 45), während „public health“ im Vereinigten Königreich zu den Sicherheitsprioritäten gezählt wird, neben Deradikalisierung und internen militärischen Konflikten (S. 50). Die USA listen den Umgang mit Ausbrüchen von ansteckenden Krankheiten in der National Security Strategy von 2015 (S. 55).
Unterscheidung: “law enforcement” und “national security intelligence”
Es zeigt sich, dass sich bei allen Ähnlichkeiten auch strukturelle Eigenheiten in den Aufbau und die Zielsetzung nachrichtendienstlicher Tätigkeit eingeschmuggelt und gehalten haben. Darüber hinaus geht Lemieux von einer substantiellen Unterscheidung zwischen “law enforcement” und “national security intelligence” aus (S. 1), was ihn dazu zwingt, ein eigenes Kapitel über “Intelligence-Led Policing” einzuführen (Kapitel 5), um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede thematisieren zu können. Weil er eine solche Unterscheidung zwischen Polizei und Nachrichtendienst propagiert, muss es auf ihn so wirken, als finde eine „Militarisierung“ des intelligence-Sektors statt (Kapitel 3). Dieses Kapitel liest der mit einem langen Löffel, der davon ausgeht, dass das Nachrichtendienstwesen eine im Wesentlichen militärische Geschichte hat (die Bezeichnung “Military Intelligence 5” (kurz „MI 5“) deutet ja Vergleichbares an). Meines Erachtens sucht der vergeblich, der nach einer rein zivilen Quelle des Nachrichtendienstwesens fahndet und ich kann deswegen das gesamt Kapitel nicht wirklich nachvollziehen, noch zumal in erster Linie US-amerikanische Nachrichtendienste als Beleg herangezogen werden, deren militärischen Entstehungszusammenhänge wohl kaum übersehen werden können.
Money-Led Intelligence?
Ohnehin sind die USA wohl das Interessanteste, worüber diese Buch zu berichten weiß. So sind dort allein vermutlich bis zu 18.000 verschiedene Polizeien aktiv sind (S. 112), was das sicherheitsbezogene Wissensmanagement schon ohne die dazuzurechnenden Nachrichtendienste zu einem Alptraum macht. Besonders bemerkenswert aber scheint mir diese Zahl zu sein: “The United States represents 65% oft he world spending on intelligence” (S. 205). Dass ein Riesengroßteil dieses Geldes an private intelligence-Anbieter fließt – je nachdem, wie man zählt gehen 70% der Mittel in den USA an Privatanbieter (S. 195) – scheint mir das eigentliche Problem zu sein: Der Staat gibt es aus der Hand, zu definieren, was er warum über wen wissen will, wie er an dieses Wissen kommt und wie er dieses Wissen deutet.
Man muss kein Anhänger Carl Schmitts sein, um zu erkennen, wo hier das Problem liegt. Nehmen wir einmal an, dass Schmitt irgendwie Recht damit hat, dass die Zuschreibung der Feindschaft das zentrale Erkennungsmerkmal des Politischen ist. Wenn das nur ansatzweise stimmt, dann erleben wir am Beispiel des intelligence-Marktes gerade, dass im Big-Data-Zeitalter diese Kompetenz im großen Stil outgesourced und es privat hergestellten Algorithmen überlassen wird, das Internet nach Gefahren zu durchkämmen. Doch was eine Gefahr ist, muss eine Gesellschaft selber wissen – sie muss die Daten deuten können, die ihr zur Verfügung stehen und sie muss sich im Klaren darüber sein, dass und wie diese Daten erhoben werden.
Das Buch Lemieux’ hätte das Potential zu einer wissensoziologischen Kritik des Nachrichtendienstwesens im Namen der inneren Sicherheit. Leider gibt es diese Möglichkeit ein ums andere Mal aus der Hand. So fasst ein Zwischenfazit des Buches meine Kritik eigentlich recht gut zusammen: “It would be interesting to systematically study the challenges of police cooperation” (S. 116). Das gelte insbesondere für das Wissensmanagement. Genau! Das wäre toll – und leider müssen wir hieraus noch warten.