Hier ist ein Bericht vom Workshop des Arbeitskreises „Soziale Bewegungen und Polizei“ im Institut für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) zum Thema:
“Selektivität im Protest Policing: Gruppen, Situationen, Kontexte”.
Autor: Roman Thurn (IfS, LMU München)
Nach dem G20-Gipfel in Hamburg stieg das öffentliche Interesse am Umgang der Polizei mit Protesten und Protestierenden stark an. Auch wenn die Geschehnisse gut drei Monate später deutlich aus dem medialen Fokus gerückt waren, harrten einige Fragen weiterhin einer Antwort: Erlebten wir in Hamburg tatsächlich eine Art von Bürgerkrieg, wie ihn manche Medien beschrieben? War das häufig sehr harte Eingreifen der Polizei entsprechend legitim – oder steigerte es vielmehr das Eskalationspotential?
Lassen sich aus den Ereignissen Prognosen für die Zukunft des policing von Protesten generieren? Und wer waren diejenigen, die dort auf so vielfältige Art und Weise ihren Protest gegen den Gipfel, mal mehr und mal weniger friedlich, kundtaten? Diese Fragen stellt sich auch die Polizei. Sie beantwortet sie mittels verschiedener Klassifikationsschemata, mithilfe derer Differenzen in den zu polizierenden Gruppen heuristisch erfasst werden. Hinter diesen Klassifizierungen stehen jedoch ihrerseits unbestimmte Ordnungsvorstellungen, wie sie etwa als cop culture, aber auch in der formalen Polizeikultur wirkmächtig sind. Als Schemata erhalten sie eine Form, mittels derer sie auch in juristischen Verfahren als Geltung erlangen. Sie haben darüber hinaus Folgen für die Wahl der Einsatzmittel und die Härte polizeilichen Vorgehens. Bislang liegen allerdings nur wenige Studien vor, die diese Selektivität im Protest Policing systematisch untersucht hätten. Um diesen Fragen nachzugehen fand am 13. Oktober 2017 am Centre Marc Bloch der HU Berlin ein von DANIELA HUNOLD (Deutsche Hochschule der Polizei, Münster), ANDREA KRETSCHMANN (Centre Marc Bloch, Berlin) und PETER ULLRICH (Zentrum Technik und Gesellschaft, TU Berlin) organisierter Workshop des Arbeitskreises „Soziale Bewegungen und Polizei“ und des „Instituts für Protest- und Bewegungsforschung“ (ipb) statt. Die Vorträge waren in zwei Blöcke gegliedert, von denen der erste einen allgemeinen Zugang zum Thema erschloss, während der zweite einen spezifischeren Fokus auf den G20-Gipfel richtete.
MORITZ SOMMER (Berlin) und SIMON TEUNE (Berlin) präsentierten als Auftakt des zweiten Blocks die vorläufige Auswertung einer Befragung von Demonstrierenden auf dem G20-Gipfel. Auf zwei Demonstrationen, am 2. sowie am 8. Juli 2017, wurden die Motivationen und Einstellungen Protestierender mithilfe quantitativ ausgerichteter Fragebögen erhoben. Ein wesentlicher Befund der Befragung sei ein Wandel der Haltung der Protestierenden gegenüber der Polizei innerhalb der sechs Tage zwischen den jeweiligen Erhebungen: So sei auf der Abschlussdemonstration am 8. Juli die Polizei als deutlich aggressiver wahrgenommen worden, während wiederum das Vertrauen in die Polizei als Institution stark abgenommen hätte. Als möglichen Grund hierfür gaben SOMMER und TEUNE neben der Zerschlagung der „Welcome to Hell“-Demonstration und der Ausschreitungen im Schanzenviertel auch eine unterschiedliche Behandlung der beiden Demonstrationen selbst an. Zudem seien weder polizeiliche Repression oder eine Ablehnung der Überwachung ein zentrales Anliegen der Protestierenden gewesen, noch hätte eine starke Differenz hinsichtlich des Grades der (Links-)Radikalität der Teilnehmer festgestellt werden können, wodurch diese Differenz hätte erklärt werden können.[1]
Hieran anschließend formuliert PETER ULLRICH (Berlin) zwölf Thesen zu den Vorfällen rund um den G20-Gipfel in Hamburg. Das policing der Gipfelproteste habe sich in dem Dilemma (I) befunden, sowohl Proteste als auch das Gipfeltreffen zu ermöglichen. In der Praxis sei der Widerspruch einseitig zugunsten der Sicherheit der Gipfelteilnehmer aufgelöst worden (II). Hierzu sei eine Technik- und Waffenshow inszeniert worden (III), bei welcher es aber nicht geblieben sei: Die niedrige Eingriffsschwelle und die schlechten Einsatzbedingungen hätten das Auftreten von Polizeigewalt gefördert (IV). Ein verstärkter Einsatz von PR seitens der Polizei habe die Proteste begleitet (V). Dabei seien neben eskalativen durchaus auch pragmatische Einsatztaktiken beobachtet worden (VI), je weiter die Proteste zeitlich oder räumlich vom eigentlichen Gipfelgeschehen entfernt gewesen wären. An vielen Stellen jedoch könne das polizeiliche Vorgehen als unprofessionell bewertet werden (VII), sofern es Eskalationen bis hin zu Paniken beförderte. Zu den Ausschreitungen selbst blieben weiterhin viele Fragen offen (VIII). Es stünde jedoch fest, dass es sich um eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gehandelt habe, bei welcher neben politischen Motiven die Männlichkeitskonstruktion der Beteiligten und der Eventcharakter der riots eine Rolle gespielt hätten. Die Geschehnisse ließen sich angesichts des entgrenzten Agierens der Sicherheitsbehörden (inklusive Rechtsbrüche) insgesamt als Ausnahmezustand zweiter Ordnung beschreiben (IX). Um die Vorfälle adäquat aufarbeiten zu können, bedürfe es einer unabhängigen Untersuchungskommission (X) sowie personeller und struktureller Konsequenzen (XI) – wobei sich abzeichne, dass grüne Regierungsbeteiligungen für die Versammlungsfreiheit keine erweiterten Handlungsspielräume böten (XII).
STEPHANIE SCHMIDT (Jena) erläuterte im Anschluss daran am Beispiel des G20-Gipfels, vor welche Probleme die empirische Forschung im Fall von Ethnographien bei Protestereignissen gestellt sei. Zunächst sei festzuhalten, dass Ethnographien in diesem Feld besonders wichtig seien um auch Verhaltensweisen der Akteure in Konfliktdynamiken erfassen zu können, welche in Interviews oder Gruppendiskussionen nicht erhoben werden könnten. Dabei gäbe es aber auf Seite der sozialwissenschaftlichen Institutionen noch Aufholbedarf: So gäbe es kaum Leitfäden, anhand derer sich Soziologen und Ethnologen im Feld und insbesondere in der Konfrontation mit der Polizei orientieren könnten, weshalb sich Forschende an bewegungsnahe Beobachterleitfäden halten müssten. Auch der mangelnde rechtliche Schutz bezüglich der erhobenen Daten stelle Forscher vor ein nicht nur ethisches Problem: Bild- und Videomaterial könnten von der Polizei an Ort und Stelle bereits beschlagnahmt werden, weswegen SCHMIDT im Feld allein auf Stift und Zettel als Werkzeug zurückgegriffen habe. Aufgrund des hohen Interesses aller Akteure sei es darüber hinaus schwierig, relativ unentdeckt beobachten zu können. Vielmehr müsse man bisweilen auch mit der wissenschaftlichen Distanz brechen, etwa wenn akut (erste) Hilfe zu leisten sei. Auf den Vorschlag zur Institutionalisierung einer offiziellen Akkreditierung von Demonstrationsbeobachtungen im Besonderen entspann sich eine kontroverse Debatte darüber, ob dies nicht dem normativen Impetus derselben abträglich wäre. Ein Konsens konnte jedoch dahingehend erzielt werden, dass der Sicherheit der generierten Daten größere Aufmerksamkeit geschenkt werden müsse.
RAFAEL BEHR (Hamburg) analysierte in seinem Vortrag eine Tendenz zur Militarisierung der Polizei. Der Begriff der Militarisierung, der nicht ohne Schwierigkeiten sei, beschreibe weniger eine funktionale als eine habituelle Tendenz: Seit dem Pariser Attentat auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo rüste sich auch die deutsche Polizei für Angriffe mit schwereren Waffen. Referenzgröße sei seitdem die Kalashnikow, das AK47. Zur apparativen trete auch eine taktische Aufrüstung hinzu: Im Amokkonzept liege die Priorität nicht mehr bei der ersten Hilfeleistung für etwaige Verwundete oder Opfer eines Anschlags, sondern bei der Ausschaltung des Täters, der nun als ‚Feind‘ im strengen Sinn erscheine. Dies schlage sich auch in der Ikonographie nieder: In den bildlichen Selbstdarstellungen der Polizei würden vermehrt Situationen der Überwältigung des Gegners dargestellt. Auch die Kleidung würde zusehends martialischer – besonders dann, wenn auf Bildern die Einsatzausrüstung mit der Freizeitkleidung kombiniert würde, um allzeitige Einsatzbereitschaft zu symbolisieren. Diskursiv würden diese Tendenzen zum einen durch eine mentale Aufrüstung begleitet, welche sich etwa in der Abwertung von Kritikern oder der Beschwörung von Kriegszuständen äußere. Zum anderen könnten auch eine mediale und rhetorische Aufrüstung festgehalten werden: Berichterstattung im Stil von Kriegsreportagen und embedded journalism legitimierten die Militarisierung der Polizei in der Öffentlichkeit. Damit drohe nicht nur eine Verfestigung von Feindbildern innerhalb und außerhalb der Polizei, sondern auch die funktionale Entgrenzung der Organisation.
Zuletzt referierte MICHAEL PLÖSE (Berlin) die Probleme und Möglichkeiten einer Reform der Polizei. Die Grundproblematik der Polizei als Vertreterin des staatlichen Gewaltmonopols bestehe zunächst in ihrer Verpflichtung gegenüber dem Volk. Deshalb ringe sie um das Vertrauen der Bevölkerung. Ihr drohe ein permanenter Gesichtsverlust im Falle des Fehlschlagens eines Einsatzes, weshalb für sie in der Praxis die Devise gelte: „Lieber später entschuldigen als schwächeln“. Hierbei überwiege ein polizeiliches Selbstverständnis als missverstandene Institution. Konträr hierzu stünden sowohl die stärkere Gewichtung polizeilicher Aussagen in juristischen Verfahren als auch die zunehmende Informalisierung und Vergeheimdienstlichung der Polizei, welche die Kontrolle polizeilichen Handelns vor den Verwaltungsgerichten zusehends erschwere. Dies wiege umso schwerer, als die Polizei auf dem Boden von Generalklauseln agiere, die eine höchst komplizierte Ermächtigungsgrundlage konstituieren würden. Die Polizei fordert daher pragmatisch, die juristische Komplexität wie folgt zu reduzieren: „Wenn wir können, müssen wir auch dürfen“. Verschiedene Möglichkeiten zur Kontrolle und Reform der Polizei können daher auf ihre Wirkmächtigkeit hin befragt werden: Von der organisationalen Selbstverwaltung und Demokratisierung der Institution über einen höheren Grad an Diversität im Personal bis zur Etablierung einer Fehlerkultur schienen viele Vorschläge durchaus sinnvoll. Unmittelbar nötig sei jedoch eine unabhängige Beschwerdestelle, welche angemessene Ressourcen zur Verfügung habe um unverzüglich mögliches Fehlverhalten im Dienst öffentlich transparent und unter Einbeziehung der Opfer überprüfen zu können – auch solches, welches nach juristischen Maßstäben nicht justiziabel sei.
Die geplanten Vorträge von DANIELA HUNOLD (Münster) und ASTRID JACOBSEN (Nienburg), die sich explizit mit der Praxis des Selektiven Polizierens, besonders mit dem Blick auf soziale Bewegungen und Unterschiede in der Bewertung rechter und linker Gruppen befasst hätten, entfielen leider. Damit rückte das Thema des Workshops allerdings keinesfalls aus dem Blick: Der sozialwissenschaftliche Fokus lag, so lässt sich resümieren, auf der polizeilichen Konstruktion des Störers, des Gefährders oder gar des ‚Feindes‘ und den jeweiligen Techniken zu dessen Festsetzung oder Bekämpfung im Kontext von Protesten und Demonstrationen. Der Tenor lautete, dass nach dem G20-Gipfel in Hamburg zwar noch nicht von einem Umbruch hinsichtlich polizeilicher Strategien gesprochen werden könne. Allerdings ist weniger die Forschung als die Gesellschaft vor die Frage gestellt, wie hoch sie das Gut der Versammlungsfreiheit in Anbetracht der oben genannten Entwicklungen gegenüber dem der öffentlichen Sicherheit zu gewichten gewillt ist. Für das nächste Jahr ist ein Folgeworkshop geplant, der die aufgenommen Themen weiterverfolgen soll.
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[1] Verschiedene Mitglieder des AK „Soziale Bewegungen und Polizei“ haben die Geschehnisse um den G20-Gipfel in Hamburg beobachtet. Die Ergebnisse ihrer systematischen Beobachtungen sowie der Befragung von Protestierenden sind unter folgendem Link online verfügbar: https://protestinstitut.eu/wp-content/uploads/2017/11/NoG20_ipb-working-paper.pdf
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