Rezension: Narrative Criminology

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Lois Presser & Sveinung Sandberg: Narrative Criminology. Understanding Stories of Crime. New York, NYU Press, 2015.

von Nils Zurawski, Hamburg

Mal ganz ehrlich, das Verbrechen selbst ist doch interessanter als die Ursachen, die dazu führten, oder? Soziologen, Sozialpädagogen und vor allem Kriminologen haben sich vornehmlich um die Ursachen von Kriminalität und so genanntem abweichendem Verhalten gekümmert. Die meisten Theorien sind entstanden um zu erklären, warum Individuen oder ganze Gruppen entweder kriminell wurden oder wie die Gesellschaft sie dazu gemacht hat. Immer wieder war der Wunsch dabei auch eine umfassende Theorie der Kriminalität zu erstellen. Dabei ist recht selten über das Verbrechen als solches erzählt worden. Das blieb den Krimi- oder SachbuchautorInnen vorbehalten.

Wenn sich die Wissenschaft mit dem Verbrechen beschäftigt, dann zum einen oft in der oben genannten Weise, zum anderen über die Köpfe der Verbrecher hinweg. Dabei haben die „Kriminellen“ einiges zu erzählen. Und genau hier setzt der Sammelband „Narrative Criminology“ an. Dabei wird hier keine neues Paradigma im eigentlichen Sinne vorgeschlagen, denn das „Erleben“ selbst ist in der Anthropologie und einer solchermaßen orientierten Wissenschaft längst alltäglicher Teil der Arbeit. In der Kriminologie wird dieser Bereich von der Cultural Criminology abgedeckt, welche mit ihrem Fokus auf ethnographisch-qualitative Methoden bereits eine Weiterführung der Cultural Studies in der Kriminologie darstellt. Narrative Criminology versammelt zehn Aufsätze sowie eine programmatische Einleitung, die wie Aspden & Hayward in ihrem Aufsatz sehr gut zusammenfassen, folgendes Ziel verfolgen:

… what is of most importance here is its fundamental interest in how individuals strive to resolve certain psychic and emotional conflicts that are themselves spawned by the contradictions of peculiarities of contemporary life. In exploring this question, cultural criminology shares with narrative criminology a scholarly and moral commitment to inquire into people‘s lived experiences. It thus shares an interest in examining the cultural trail that individual leave ind, the transgressions, the flawed decision, the cultural and personal artefacts and traces of a life lived that hep us understand human behaviour. (S. 237).

Es geht also nicht um Geschichten vom Verbrechen, sondern darum die narrativen Verankerungen, die Erzählungen des Verbrechens und der in ihr verstrickten Individuen zu erkunden, die gesellschaftlichen Rahmen – Erving Goffman ist ein gern zitierter Autor vieler Beiträge – und Biographien. Programmatisch und theoretisch wird die Perspektive von in der Einleitung von den Herausgebern Presser und Sandberg (What is the story?, S. 1-20) umrissen sowie von Aspden & Hayward (Narrative Criminology and Cultural Criminology: Shared Biographies, Different Lives?, S. 235-259). Im Kern geht es hier wie auch im ersten Teil des Bandes darum zu zeigen, wie Erzählungen als Selbst-Präsentationen gelesen und für die Forschung genutzt werden können. Erzählungen können dabei immer verschiedene Interpretationen haben, was bei der Bestimmung von Ursachen ein wenig in Vergessenheit gerät. Somit ist eine Perspektive, die an den möglicherweise geteilten Erzählungen von Individuen interessiert ist, passender in einer Zeit, in der patchwork-Identitäten einer generellen Skepsis gegen die Erkenntnisse der großen Zahlen, der Statistiken gegenüber steht – insbesondere wenn es um die Ursachen von Kriminalität als einer Möglichkeit menschlichen Verhaltens geht.

So versammeln die vier Aufsätze im ersten Teil sehr verschiedene Beispiele für solche Erzählungen und zeigen, was man damit in der Analyse anfangen kann. Thomas Ugelvik berichtet von den Erlebnissen von Vergewaltigern und ihren Identitätskonstruktionen; Jennifer Fleetwood von narrativen Praktiken in einem ecuadorianischen Frauengefängnis, Miller et al. von weiblichen Meth-Nutzern und ihren Erzählungen von Sucht und ihrer Bekämpfung; schließlich berichten Victor und Waldram vom Sexualstraftätern und ihren Erfahrungen der Re-Integration. Gemeinsam ist den Aufsätzen, dass sie auf eine Weise an die „Täter“ herangehen und ihren dabei eine Stimme verleihen, ohne dass sie Taten oder Gründe rechtfertigen würden.

Teil 2 ist ein wenig methodischer orientiert und konzentriert sich darauf zu zeigen wie Erzählungen verletzendes Verhalten hervorrufen oder auch verhindern können. Hervorzuheben ist hier der Aufsatz von Patricia O‘Connor (Telling Moments: Narrative Hot Spots in Accouns of Criminal Acts, S. 174-203). Sie untersucht im Detail Erzählungen bzw.  was sie mit Hot Spots bezeichnet, nämlich zentrale Erzählfiguren, denen sie als Teil qualitativer Forschung elementare Bedeutung zumisst. Wer eine methodische Orientierung für die eigene Forschung braucht, findet in diesem Aufsatz ein exzellentes Beispiel. Aber auch die Aursätze von Keaton (The Race of Pale Men Schould Increase and Multiply. Religious Narravtives and Indian Removal, S. 125-149) sowie Sandberg & Tutenges (Meeting the Djinn: Stories of Drug Use, Bad Trips, and Addiction) sind sehr lesenswert).

Teil 3 schließlich reflektiert anhand von Beispielen das Konzept narrativer Kriminologie. Neben den bereits zitierten Aspden & Hayward erkundet Fiona Brookman die „Shifting Narratives of Violent Offenders“ und zeigt das Erzählungen wechseln können, nicht unveränderbar, aber dennoch wahrhaftig sein können. Zum Schluss gibt Tognato noch einen Einblick wie wichtig überzeugende Geschichten von Abweichungen sind, damit sie auch in einem weiteren gesellschaftlichen Feld akzepiert werden. Sein Beispiel ist der Steuerbetrug in Italien (Narratives of Tax Evasion. The Cultural Legitimacy of Harmful Behaviour, S. 260-286). Abgerundet wird der Band von einer Conclusio der Herausgeber, in der zentral festgehalten wird, dass es bei den Erzählungen nicht nur um nachfolgende Rechtfertigungen von Verbrechen oder abweichendem Verhalten geht, sondern in diesen Geschichten ebenso viel Potenzial für Handlungen selbst stecken, neben der Konstruktion von Identität und den damit verbundenen Wechselwirkungen mit dem gesellschaftlichen Rahmen.

Das Buch ist lesenswert für alle Kriminologen, die sich für neue Herangehensweisen interessieren, die einen neuen wissenschaftlichen Umgang mit Abweichung suchen und eine methodisch-theoretische Diskussion darüber. Ethnographisch-anthropologisch orientierten Forschern ist diese Diskussion nicht neu, aber der Bezug zum Gegenstand Verbrechen hilft dabei verschiedene Forschungstraditionen sich auch programmatisch gegenseitig näher zu bringen. Und außerdem sind es letztlich gute Geschichten, die erzählt werden, nur eben nicht als Krimis, sondern als Teil von Forschung und Wissenschaft.

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