Rezension: Invisibility Studies

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Steiner, Henriette & Veel, Kristin (Hg.) 2015: Invisibility Studies. Surveillance, Transparency and the Hidden in Contemporary Culture. Bern: Peter Lang.

von Susanne Krasmann, Hamburg

In kriminologischer Perspektive könnte man wohl meinen, dass ein Buch mit diesem Titel vor allem von Formen und Technologien der Überwachung handelt; davon, wie diese Technologien bestimmte Sichtbarkeiten herstellen und Kontrollzugriffe ermöglichen; wie sich das Verhältnis von Überwacher und Überwachten, Sehen und Gesehenwerden mit neuen Kontrolltechnologien verschiebt, wie etwa die Digitalisierung beziehungsweise Automatisierung auch neue Formen und Dimensionen der Überwachung schafft und nicht zuletzt ein verändertes Verständnis dessen provoziert, was als private, öffentliche und geheime Angelegenheit gilt.

Doch das Kapitel in diesem Buch, das sich noch am meisten und ausdrücklich mit dem Thema des Geheimnisses beschäftigt, hat mit Geheimdiensten wenig zu tun. Stattdessen handelt es von „Secret Suburbs“, den anderen Lebensweisen, die das Sommerhaus, hier am Beispiel des dänischen Sommerhauses, fernab der alltagsweltlichen Zivilisation ermöglicht. Entscheidend, so der Architektur-Wissenschaftler Claus Bech-Danielsen, ist die Möglichkeit und Ermöglichung, außer Sicht zu sein, der Welt des Alltags auch dank der Abwesenheit von Techniken, die sonst das Handeln strukturieren (von Uhr und Telefon bis hin zu Smartphone oder Internet), zu entschwinden. Das Leben im Sommerhaus wird zur Auszeit, zu einem anderen, geheimen Leben, weil der Alltag selbst aus dem Sichtfeld gerät – ebenso wie umgekehrt das ersehnte Leben im Sommerhaus vergessen wird, sobald mit dem Ortswechsel der Alltag wieder eintritt. Auch das ist das Geheimnis: die Diskrepanz zwischen Alltag und Traum auszuhalten.

Einer kriminologischen Intuition, was sich mit „Invisibility Studies“ verbinden könnte, am nächsten kommen noch die Beiträge von David Murakami Wood über „Vanishing Surveillance“ und Nanna Bonde Thylstrup über „The Invisibilities of Internet Censorship“. Die Allgegenwart der Überwachung (ubiquitous surveillance), so Murakami Wood, ist eine Konsequenz der Allgegenwart von Computern in unserem Alltag. Diese Omnipräsenz geht, nur scheinbar paradox, mit einem Verschwinden (vanishing surveillance) der Überwachung einher. Freilich verschwindet nicht die Praxis der Überwachung, vielmehr wird sie unscheinbarer. Was sich verflüchtigt, ist ihre Wahrnehmbarkeit: Während die technischen Apparaturen selbst (beispielsweise Kameras, Mikrochips) Miniaturen werden, hat deren sensorische Reichweite erheblich zugenommen; Überwachungstechnologien sind mobiler einsatzfähig geworden und zugleich informationstechnologisch vernetzt; sie können überdies ein ganz anderes, vielleicht unverdächtiges Erscheinungsbild annehmen (die Überwachungsdrohne, die wie ein Vogel oder Insekt aussieht), und sie können sich ihrer Umgebung anpassen und sich in die Landschaft einschreiben – man braucht nicht einmal, wie der Autor, das Beispiel der unterirdisch angelegten Kabel der israelischen Firma G-Max zu bemühen, deren Sensoren auf einem designierten Territorium ganz unbemerkt den unbefugten Eindringling identifizieren und diesen noch von einfach nur herumstreunenden Tieren unterscheiden können. Im alltäglichen Zugriff auf Computer und Internet verklammern sich heute „virtuelle“ und „reale“ Welt, alltägliche Nutzung beziehungsweise Konsum und Überwachung werden ununterscheidbar.

Während die Bedeutung von analogen Wissensformen und entsprechenden Kontrollmodi im digitalen Raum schwindet, so theoretisiert Bonde Thylstrup, steuern Algorithmen die Bedürfnisse und Handlungen der Nutzer, die ihrerseits die Algorithmen speisen. Althergebrachte Vorstellungen von Zensur und deren Kontrolle durch staatliche Akteure und mittels Recht greifen in diesen Konfigurationen nicht, denn die automatisierten Protokolle schaffen ihre eigene Realität. Sie präfigurieren Identitäten und nehmen in einer Weise vorweg, so die These, was gesagt und getan werden kann, dass sie letztlich den Raum für die Artikulation von Dissens, in Jacques Rancières Sinn, und damit auch die Möglichkeit von Politik eliminieren.

Und so ist das Buch aufgebaut: Der vielfältige und vielschichtige Zugriff auf Sichtbarkeitsregime unserer Gegenwart durchkreuzt herkömmliche disziplinäre Zuordnungen und noch die Einteilung in akademische und nicht-akademische Beiträge. So kommen Architekten, Kunst- und Kulturtheoretiker, Sozial- und Literaturwissenschaftler ebenso wie gesellschaftspolitische Initiativen zu Wort. Aufschlussreich ist der analytische Ansatz, den die beiden Herausgeberinnen Henriette Steiner und Kristin Veel selbst ins Spiel bringen. Sie fragen nämlich nicht nur, wie kulturelle Praktiken, Architekturen oder Technologien bestimmte Formen der Sichtbarkeit und Nicht-Sichtbarkeit herstellen, sondern auch und vor allem, wie diese ausgehandelt werden (negotiating). Ausgehend von dem in der Tat in der Welt der Überwachung weit verbreiteten Diktum, dass wer nichts zu verbergen auch nichts zu befürchten habe, begreifen Steiner und Veel die Frage der Sichtbarkeit selbst als eine Frage der Betrachtung. Der Betrachter ist immer schon eingeschlossen in das, was er oder sie sieht und was gesehen oder nicht gesehen werden kann, und umgekehrt ist dies, was gesehen werden kann immer schon durch spezifische (kulturelle) Formen der Wahrnehmung geprägt. In unserer Gegenwart, so die originelle grundlegende These, hat sich nicht nur das Verhältnis von Sichtbarkeit und Nicht-Sichtbarkeit verschoben, entscheidend ist vielmehr, was wir als sichtbar und nicht-sichtbar oder unsichtbar und verborgen erachten (consider). Es geht um die veränderte und sich verändernde Wahrnehmung von Sichtbarkeit, die sich in einer „visuellen Kultur“ und den ihr eigenen symbolischen Formen zum Ausdruck bringt. Das Konzept der „perceived visibility“ schließt ein, dass Weisen des Sehens stets mit einem Nicht-Sehen verknüpft und mit kulturellen Formen der Imagination verwoben sind.

Der Band gliedert sich in vier thematische Cluster. Der erste Abschnitt zu „Transparency, Refraction and Opacity“ fragt, wie sich unsere Fähigkeit zu sehen ins Verhältnis zur materiellen Struktur unserer bebauten Umwelt setzt, namentlich wie Glasfenster und Spiegel unsere Sicht befördern, aber auch strukturieren, wie sie Transparenz versprechen und dabei auch spezifische Subjektivierungsformen hervorrufen. Die analytischen Elemente wie Urbanität, Transparenz, Oberfläche, Bildschirm, Geheimnis, Überwachung und Darstellung werden hier für den gesamten Band entwickelt. Der zweite Abschnitt zu „Urban, Topography, Void and Display“ verhandelt Fragen changierender Sichtbarkeit mit Blick auf spezifische architektonische Settings wie Denkmale, Museen oder Fabriken und ihre urbanen Topographien. „Surfaces, Secrets and Interior Spaces“ geht drittens dem Verhältnis von Sichtbarkeit und Nicht-Sichtbarkeit in der kulturell geprägten Scheidung zwischen Innen und Außen nach. Neben dem schon erwähnten Beispiel der dänischen Sommerhäuser, die es erlauben, sich den Alltag unsichtbar machen und sich dem Alltäglichen gegenüber unsichtbar zu machen, geht es hier um das Verhältnis von privatem Raum und Voyeurismus, kritischem Betrachter und Komplizenschaft. So stellen „looking in“ und „being looked at“ zwei Erfahrungsmodi zwischen Distanznahme und Nähe, Ausgeliefertsein und Verborgen- oder Entfernt-Sein dar. Die Aufsätze unter der Überschrift „Screens, Cameras and Surveillance“ schließlich untersuchen nicht nur die veränderten Formen der Überwachung, sondern auch das Verhältnis von Sehen und Erscheinen. Im Kapitel „To See the World as It Appears“ entschlüsselt Susanne Wigorts Ynvesson dieses Verhältnis, mit Maurice Merleau-Ponty, als eines der körperlichen, oder verkörperten, Verwobenheit. Was wir wahrnehmen, bleibt stets verhaftet, unvollständig und letztlich undurchdringlich, es entzieht sich der vollständigen Erfassung oder Erklärung: „the imgaginary world is incarnated in the flesh of the world“. Innen und Außen, Subjekt und Objekt sind nicht voneinander zu trennen. In dieser Beobachtung offenbart sich die spezifische soziale Brisanz von Überwachungstechnolgien, die Objekte, Gegenstände der Überwachung, nicht nur sichtbar machen, sondern auch hervorbringen. Sie prägen (Selbst-)Wahrnehmungen, Visionen und Phantasien. „[W]e are“, so schließen die beiden Herausgeberinnen den Band, „merely ‚visible in theory‘.“

Susanne Krasmann, Hamburg

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