Rezension: 9/11 als Bildereignis

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Anne Becker: 9/11 als Bildereignis – Zur visuellen Bewältigung des Anschlages. Bielefeld, transcript 2013

von Florian Zappe, Berlin.

Anne Beckers Studie untersucht verschiedene Medienbilder der Anschläge vom 11. September 2001 im Hinblick auf ihre Rolle und Funktion bei der Konstruktion des Ereignisses als „Bildereignis“, sowie bei der Bewältigung der Anschläge im kollektiven Gedächtnis Amerikas.

Im ersten Teil ihrer Untersuchung zieht die Autorin zunächst wesentliche Vertreter der postmodernen Bild- und Medientheorie (Jean Baudrillard, Paul Virilio), heran, um den „11. September“ als ein globales, durch mediale Vermittlung erfahrenes „Bildereignis“ zu definieren. Hier kommt es zu einer in der (Medien)geschichte einmaligen „Irritation der Grenzen zwischen primärer und sekundärer Erfahrung“, durch die „die Bilder des 11. September 2001 ein globales Medienpublikum in bislang nicht gekannten Maße [affizieren]“ und „eine Weltgemeinschaft zu Augenzeugen des Schreckens machten“. (S. 24)

Dieser Schrecken weist, so Beckers These, wesentliche Charakteristika der aus der Ästhetik stammenden Kategorie des Sublimen bzw. Erhabenen, also des nicht mit Worten Beschreibbaren, auf. Gerade da, wo die Sprache angesichts der traumatischen Wirkung der Anschläge als Kommunikationsmedium versagt, beginnen Bilder ein wesentliche Rolle zu spielen. „Im Chaos des Ereignisses“, schreibt Becker, „ wird das Bild zum Vehikel, um Orientierung zu erlangen, und des Schreckens mithilfe des Festhaltens im Bildobjekt habhaft [Hervorhebung im Original] zu werden.“ (S. 10)

Der umfangreichste Teil der Studie widmet sich dann auch der detaillierten Analyse des „öffentlichen Bilderkanons“ (S. 90), der sich um das Ereignis 9/11 herum herausgebildet hat, um zu zeigen, „wie das im Bild fixierte Schreckensereignis durch Ästhetisierung domestiziert und in Überhöhung überführt wird.“ (S. 91). Methodisch rekurriert Becker dabei auf verschiedene philosophische Konzepte des „Erhabenen“. Jean-François Lyotards Theorie des „Erhabenen als Ausdruck des Bruchs“ hatte ihr bereits dazu gedient, das „Bildereignis 9/11“ als historische Zäsur zu bestimmen (S. 28ff.). Nun greift sie auf Edmund Burkes Kategorie des „Schrecklich-Erhabenen“, Immanuel Kants Analytik des Erhabenen und Schillers Theorien zum „Pathetischerhabenen“ zurück, um in einer Reihe von Detailanalysen zu untersuchen, wie verschiedene Bildtypen in der gesellschaftlichen Verarbeitung der Anschläge wirken.

Das erste „close reading“ widmet sich Thomas E. Franklins Foto „Raising the Flag at Ground Zero“, ein „Schlüsselbild des 9/11“ (S. 122) das nicht nur durch seinen (freilich nachträglich zugeschriebenen) Titel, sondern auch in seiner Bildästhetik an Joe Rosenthals „The Raising of the Flag on Iwo Jima“ aus dem Jahr 1945 erinnert und auch in ähnlicher Weise instrumentalisiert wurde: „Die Flaggenhissung ist das gemeinsame Motiv dieser Fotos, die beide eine Erfahrung des Schreckens dokumentieren und eine Zäsur im US-amerikanischen Bewusstsein markieren. Beide Aufnahmen entstehen in Zeiten der Krise und des nationalen Traumas, sie werden auf politischer Ebene hervorgehoben, mit einer politischen Botschaft verbunden und in der Öffentlichkeit inszeniert.“ (S. 127) Die Tatsache, dass die „inhärente Botschaft [dieser Bilder] vom kulturell visuell vorgeprägten Rezipienten intuitiv als aufrichtend dechiffriert wird und der Schrecken eine positive Auflösung erhält“ (S. 164), dient Becker als Beleg dafür, dass solche „Medienikonen“ eine wesentliche Wirkung bei der kollektiven Bewältigung nationaler Traumata spielen können.

Ähnliches gilt für die heroisierende visuelle Stilisierung der New Yorker Feuerwehrmänner, deren „(reales) Leiden, […] Strapazen und […] Mut zum öffentlichen Spektakel“ (S. 230) gemacht wurde, was, neben der erwartbaren politischen Vereinnahmung, auch fragwürdige Formen der (kommerziellen) Ikonisierung mit sich brachte. So etwa, als im Jahr 2003 ein „Calendar of Heroes“ (S. 217) die medial konstruierten Helden zu Pin-up-Motiven machte.

Das sicherlich interessanteste Kapitel widmet sich einer Kategorie von Bildern, die nicht Eingang in den Bilderkanon gefunden haben, weil sie sich als „Störfaktoren“ (S. 234) nicht in den Diskurs der visuellen Domestizierung des Schreckens integrieren lassen – die Aufnahmen von jenen Menschen, die aus den brennenden Türmen zu Tode stürzten. Bereits während verschiedene während der Liveberichterstattung hatten einige Fernsehsender darauf verzichtet, diese Bilder zu zeigen (vgl. S. 236), doch vor allem die Diskussion um Richard Drews Fotografie „Falling Man“ (vgl. 251ff.) zeigt, dass sie auch aus dem sich nachträglich etablierenden Bilderkanon ausgeschlossen bleiben, weil sie eben nicht in der Lage sind, „eine aufrichtende Botschaft und die Hoffnung auf die Überwindung des Schreckens“ (S. 252) zu transportieren.

Sicherlich hat der „11. September“ einen massiven Paradigmenwechsel im Hinblick auf die Überwachung und ihre Erscheinungs- und Legitimationsformen herbeigeführt, doch das ist nicht Beckers Thema. Ihre Arbeit beschäftigt sich nicht (auch nicht indirekt) mit der Bildproduktion in Überwachungsvorgängen. Sie ist eindeutig den „Visual Culture Studies“ zuzuordnen und weist keine Bezüge zum Forschungsfeld der „Surveillance Studies“ – auch nicht in ihrer kultur- oder medienwissenschaftlichen Ausprägung – auf.

Florian Zappe, Berlin

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