von Nils Zurawski (2022/2025)
„Hört das denn nie auf!“
Jakob stand im Eingang seiner kleinen Kate, er schüttelte ungläubig den Kopf und murmelte für sich selbst, eine Frage, die er eh nicht beantworten konnte. Der alte hölzerne Türrahmen fasste ihn ein, gab ihm ein wenig Schutz vor dem unablässigen Regen. Nur das Spritzwasser traf ihn, der Wind zerstäubte die Tropfen und sprühte ihm ins Gesicht. Es machte ihm nichts. Hier draußen auf der Insel war das Teil des Lebens, Wasser war eh überall, oft auch auch von oben. Aber es regnete nun doch schon ungewöhnlich lange, ohne eine einzige Unterbrechung. Und das war ungewöhnlich. Ungewöhnlich war auch, dass es dabei fast windstill war. Stürme war er gewohnt, im Herbst oder im Januar. Orkane, Windstärken von 10 bis 12, wenn das Wasser waagerecht auf die Häuser traf. Dann hatte er die Fenster verriegelt und mit schweren Läden verhängt. Nichts von alledem jetzt. Es regnete einfach nur. Eher feiner Regen, dauerhaft, seit 14 Tagen nun bald. Der Boden begann aufzuweichen. Auch das war eher neu. Die Gräser hielten den Boden eigentlich gut zusammen, aber jetzt hinterließ er Spuren, wenn er seine Runde drehte und nach dem Rechten schaute.
Die Insel war klein, eher eine Hallig. Er lebte darauf mit seiner Familie, seiner Frau, drei Töchtern. Dann waren da noch ein paar Nachbarn. 15 Leute waren es insgesamt auf Sommerstrande, die hier lebten, ein paar Kühe hielten, etwas Gartenbau betrieben, sofern das hier draußen möglich war und vor allem für den Küstenschutz zuständig waren. Die Inseln hier draußen schützten die Festlandküste 20 km weiter östlich. Es war ein ganzer Zug von Inseln wie seine, die sich wie eine Perlenkette vor der Küste langzog. Ungleichmäßige Perlen, eher langgezogen, von den Gezeiten geformt, vom Wasser modelliert und gegen die Fluten behauptet. Wasser in allen Formen und von allen Seiten war allgegenwärtig. Regen ein Teil davon. Dennoch, so lange anhaltende Niederschläge mitten im Juni waren doch schon ungewöhnlich. Dabei war es nicht mal besonders kalt. Es war halt nur andauernd nass. Jakob war nicht beunruhigt, wunderte sich aber und verschwendete mehr als nur einen flüchtigen Gedanken an das Wetter der letzten Tage. Er schaute in den Himmel und schüttelte den Kopf. Dann zog er den Kragen seines gelben Regenmantels am Hals zusammen und marschierte los, seine Runde machen. Alles war wie immer, nur der Himmel halt grau und die Sonne nur an den besonders dünnen Stellen hinter dem schlierigen Vorhang zu erahnen. In der Entfernung blitzte ein heller Schein auf, bildete er sich ein, hoffte er. Vielleicht das Ende des Regens, eine Sonne, die den Himmel wieder freimachte? Das Wasser um die Insel war ruhig, wie gesagt, es gab so gut wie keinen Wind zu Zeit. Ein paar Boote tuckerten übers Wasser, weiter hinten eine Fähre, auf der Verbindung zur Nachbarinsel, die viel größer war als seine, Möwen kreisten über dem Wasser, folgten einem kleinen Fischerboot. Sie folgen niedrig, hatten wohl auch keine Lust mehr auf den Regen. Sein eigenes Boot lag angebunden. Er nutzte es selten, meist um einzukaufen am Festland. Er machte dann einen Großeinkauf, nahm die Wünsche von den Nachbarn entgegen, lud das Boot voll und besorgte alles wichtige und immer für ein paar Tage mehr, denn man wusste nie was kommen konnte hier draußen. Die letzte Fahrt lag fünf Tage zurück und die Vorräte waren gefüllt. Bis auf den Regen war alles wie immer und eigentlich auch gut.
Gegen Mittag war er von seiner Runde zurück, hatte seinen Küstenabschnitt inspiziert und war auf dem Weg nach Hause, für ein spätes Frühstück. Die Sonne war immer noch nicht durchgekommen, der helle Schein deutete sich irgendwo in der Entfernung an, war aber kaum mehr als das und nicht größer geworden. Es nieselte weiterhin, bald so wenig, dass er es schon kaum mehr wahrnahm. Feuchte Luft, viel eher als ein störender Regen und ohne Wind, der die feinen Tropfen zerstäubte, war es kaum wahrnehmbar, wenn man sich vier Wochen daran gewöhnt hatte. Eine Pause hatte es nicht gegeben. Auch nicht nachts, wobei er das nicht ganz genau wissen konnte, aber alle Messeinheiten und Auffangbehälter legten das nahe.
Er blieb stehen und schaute übers Wasser. Es war so ruhig wie heute morgen, die Schiffe waren weg. Es gab nur wenige Möwen. Aber noch irgendetwas war anders. Ganz hinten sah er doch noch ein Boot. Es fuhr nicht, es stand, hing eher im Wasser, leicht schräg, blieb aber genau in dieser Position stehen. Das war ungewöhnlich. Das Wasser gleicht so etwas aus, kein Boot blieb einfach schräg im Wasser liegen. Außer es hatte eine Schräglage durch einseitiges Gewicht. Es würde aber zumindest im Wasser wippen. Auch wenn die See hier zwischen Festland und Insel ruhig aussah, so gab es doch eine kleine Strömung und Wellen, die Boote wie das dort hinten ein wenig in Bewegung hielten. Nichts davon war zu sehen. Er holte sein Fernglas vor und schaute durch. Zwei Möwen saßen auf dem Rand des Bootes. Die waren nicht schwer genug, um es in eine solche Seitenlage zu kippen. Was war da los? Er scannte den Horizont, auf der Suche nach anderen Booten, nach kleinen Schiffen, vielleicht sah er die Fähre, die jetzt auf dem Rückweg von der Nachbarinsel zum Festland sein musste. War sie der dunkle Fleck dahinten? Jakob konnte es nicht erkennen. Auch sein Fernglas zeigte nur verschwommene Umrisse, dabei war es eigentlich gar nicht so weit und der Feldstecher neu, topmodern und sehr sehstark. Er drehte an dem Rad zum Scharfstellen der Linse, holte das Objekt näher ran, es blieb aber unscharf. Eine Fähre, vielleicht. Wenn man es als solcher erkennen wollen, dann konnte man eine Schiff sehen, aber eigentlich war es nur ein Fleck, verschwommen, der sich auch nicht im Wasser bewegte, sondern darin stand, wie hindekoriert in einer Art blauer Masse, die keine eigene Art von Leben zeigte, nicht das kleinste auf und ab.
Irgendwas war passiert da draußen. Wenig Schiffe, das nicht das Problem, aber auch sehr wenige Vögel, kaum Möwen, außer denen, die hier über die Insel flogen und am Strand lang liefen. Im Wasser keine einzige. Ein letzter Blick durch sein Fernglas, dann nahm er es runter, drehte sich vom Wasser weg und machte sich auf den Weg nach Hause. Dort angekommen, setzte er den Boiler auf um sich einen Tee zu machen, die Gedanken bei der See, dem schrägen Boot, dem verschwommenen Schatten. Was hatte er gesehen und was hatte er nicht gesehen? Die Fragen gingen ihm im Kopf rum. Wasser. Er ging zur Spüle und dreht den Hahn auf. Wasser, wie immer. Ein gerader Strahl. Er hielt die Hand darunter, alles war wie sonst auch immer. Es schmeckte auch gleich. An seinem Laptop öffnete er die Nachrichtenseiten, das Radio hatte er bereits angestellt. Es war 10 vor 10 und es spielte Musik. Er googelte: Wasser, Fähre, Überfahrt, Sommerstrande, Unfall, Zeiten, Aktuelles, alles zusammen und Kombinationen aus den Begriffen. Viel fand er nicht. Der Fährverkehr sei eingestellt worden, es gäbe technische Probleme an einer Fähre und irgendwas mit der Fahrrinne, wo man gerade nicht durchfahren könne. Nichts, was ihm wirklich weiterhalf. Seine Frau war auf dem Festland, vielleicht sollte er sie mal anrufen. Eigentlich machten sie das selten, aber jetzt gab es durchaus einen Grund. Die Kinder waren noch in der Schule, also in einem der anderen Häuser bei der Lehrerin, die hier für die Kinder der Insel sowie ein paar andere den Unterricht gab. Eine Dorfschule, wenig Schüler:innen, aber eine gute Betreuung. Seine größte Tochter war auf dem Festland, auf einer weiterführenden Schule. Dort war sie die Woche über, sie kam immer freitags nach Hause. Das war einfacher für die Inselkinder, vor allem bei schlechtem Wetter. So mussten sie in der Woche nicht immer mit dem Wetter planen.
Als er am Strand angekommen war, blieb er zunächst stehen, beobachtete das Wasser. Es lag brettflach vor ihm. Keine Regung, keine Wellen. Oder doch, es sah aus, als wenn es wackeln würde, fast wie eine viskose Masse, nicht wie Wasser, zumindest nicht das Wasser, das er kannte. Langsam ging er den Strand runter, tapste mit dem Fuß ins Meer. Fühlte sich an wie immer. Es spritze sogar ein wenig hoch. Zwei, drei weitere Fußschläge und immer das gleiche Ergebnis. Es war Wasser, wie sonst auch. Er bückte sich, nahm seine Hände und holte mit einem Schwung eine Ladung nach oben. Wasser. Fühlte sich auch an wie es sollte. Dennoch, keine Möwe da, nichts auf dem Wasser selbst. Das Boote, dass er vorhin gesehen hatte, stand immer noch schräg im Meer, bewegte sich nicht. Mit einem ordentlich Schwung warf er ein Stück Treibholz ins Meer. Er holte weit aus, um den einen Meter langen Ast wie an einem Katapult ins Meer zu schleudern. Der Ast war nass von dem ganzen Regen er letzten Tage, hatte also genug Gewicht um weit zu fliegen. Er schaute seinem Flugobjekt nach, dann ditschte es auf die Oberfläche auf – und blieb liegen. Das hatte er so nicht erwartet. Es gab auch keine Wellen. Er nahm einen Stein und warf auch diesen mit aller Kraft. Wieder schlug auch dieser auf der Wasseroberfläche auch, blieb auch erst liegen um dann mit einem schmatzenden Geräusch zu verschwinden. Kreise und kleine Wellen gab es auch jetzt nicht. Es sah von ihm wie Gelee aus, wie irgendetwas Festes, auf keinen Fall wie das Wasser, das er kannte. Wieder griff er mit den Händen hinein. Es rann ihm durch die Finger. Er verstand es nicht und schmiss weitere Gegenstände, Holz, Steine, kleine und große, ins Meer. Immer mit dem gleichen Ergebnis. Das Meer hatte sich verändert und er wusste nicht wie und was er davon halten sollte. Noch wusste er warum. Sein Telefon klingelte.
„Ich komme hier heute nicht mehr weg. Ich bleibe auf dem Festland. Ich gehe zu Michaela, die hat bestimmt ein Bett für mich“.
Ina, Jakobs Frau.
„Am Hafen sind sie unklar, was los ist. Die Fähren fahren auf jeden Fall nicht mehr. Irgendwas mit der Fahrrinne, sagen sie. Ich weiß nicht. Da ist irgendwas anderes, aber so richtig wollen sie damit nicht raus oder sie wissen es selbst nicht. Hast Du was gesehen oder gehört?“
„Ja und Nein. Ich habe nur das gehört, was du erzählst. Im Netz steht auch noch nichts anderes, bis eben zumindest nicht. Und ja, ich bin am Wasser und hier ist etwas so richtig falsch. Das Wasser ist wie Gelee, zumindest wenn ich Dinge reinwerfe. Die Möwen gehen da auch schon nicht mehr hin, die sitzen hier am Strand, wie Kinder als wäre das Schwimmbad mitten im Sommer unerwartet zu. Wenn man es anfasst, ist es wie immer, Wasser halt. Ansonsten ist es komisch, eine feste Masse. Aber das kann ich nur vermuten, reingegangen bin ich noch nicht. Was ist mit Lina?“
„Lina bleibt in der Schule, sowieso bis Freitag, um die müssen wir uns jetzt nicht sorgen. Das sehen wir dann später. Kommst Du klar zu Hause?“
„Klar. Ich gehe gleich mal zur Schule und checke, was da los ist. Ruf bitte an, wenn Du etwas erfährst. Ich melde mich nachher wieder. Ich liebe Dich.“
„Ich Dich auch“
Sie wohnten lange genug auf der kleinen Insel. Stürme, Hochwasser, Überflutungen oder Stromausfälle waren für beide keine Besonderheit. Beide waren auch noch nicht besorgt. Jakob wunderte sich nur, da er so etwas noch nie gesehen hatte und überhaupt keinen Reim machen konnte, womit sie es hier zu tun hatten. Dass niemand über das Wasser zu einem kommen kann, wenn draußen ein Orkan die Wellen auf fünf und mehr Meter hochpeitscht, wenn auch Flugzeuge keine Option der Versorgung sind, das ist Teil des Lebens hier draußen. Aber es nieselte lediglich, Wind war nicht vorhanden, es war bedeckt, aber weit entfernt von irgendetwas, das er mit schlechtem Wetter hätte in Verbindung bringen wollen. Absolut ruhige See, die man nicht überqueren kann, mit keinem Boot oder auch größeren Schiffen, wie es schien, das war ungewöhnlich und passt ein keines der Notfallbilder, die er im Kopf hatte. Für die er möglicherweise auch Vorsorge getroffen hatte. Hieß das jetzt also eine Verbindung aus der Luft?
„Kann ich reinkommen“, Jakob klopfte zweimal an die Holztür des Schulraums, wo die Lehrerin mit sechs Kindern gerade etwas bastelte. Sie waren vertieft in ihre Arbeit, die Lehrerin schaute auf.
„Klar, komm rein Jakob.“
„Ich wollte mal sehen wie es euch geht. Der Fährverkehr ist für heute ausgesetzt. Irgendwas mit der Fahrrinne. Kein Boot geht rüber, auch von hier nicht. Du musst wohl hier bleiben, wenn Du das nicht sowieso vorhattest.“
„Alles klar. Kein Problem. Ich ruf nachher noch Kai an, damit er sich keine Sorgen machen muss.“
Eigentlich war das unnötig, das wusste Martine auch, also anzurufen, damit sich ihr Freund keine Sorgen machen musste. Das tat er eh nicht. Er war Ersthelfer bei der Feuerwehr am Festland und fuhr ab und zu auch mit dem Rettungskreuzer raus. Er kannte die See, lebte hier schon lange und wenn seine Freundin mal einen Tag auf der Insel blieb, war das für ihn kein Thema.
„Alles klar. Frag ihn dann mal, ob er mehr weiß, was die sich bei der Feuerwehr oder den Seerettern erzählen. Ich bin schon sehr gespannt, was da los ist und ob die mehr wissen als nur, dass irgendwas in der Fahrrinne ist. Das kann ich sowieso nicht so richtig glauben. Das würde die Fähre erklären, aber nicht das Wasser und das kleine Boot.“
Er erzählte ihr von seinen Beobachtungen. Martine war nicht von der Küste, lebte aber lange genug hier um zu wissen, dass Jakobs Schilderungen sehr merkwürdig waren und eigentlich keine Erklärung hatten, zumindest keine, die sich sofort anbot. Auch keine von den alten Geschichten, die gern ausgesponnen wurden, wenn die Alten zusammensaßen, so von früher, dem Meer, Monstern und Helden auf dem Wasser.
Zu Hause angekommen, Inge und Fiona, seine zwei Mädchen, und die anderen Kinder mussten noch in der Schule bleiben, musste er nicht lange suchen, um zu erfahren, was los war. Oder um es genau zu sagen: Es wusste auch jetzt niemand. Nur, dass seine Beobachtungen mittlerweile auch andere gemacht hatten – rund um den Globus. Das Fernsehprogramm war eine einzige Nachrichtensendung, egal auf welchem Sender. Das gleiche galt für die Nachrichtenportale im Internet. Ratlosigkeit war wohl die am besten passendste Beschreibung. Keiner hatte je so etwas gesehen, Experten, wenn es denn für diese Situation irgendwelche überhaupt gab, überschlugen sich mit Antworten, die kaum mehr als informiertes Raten waren. Alle waren ratlos und mussten das auch zugeben. Ungern, aber letztlich blieb ihnen nichts anders übrig.
Schiffe fuhren nicht mehr, die Weltmeere waren, soweit das überhaupt jemand in Gänze sagen konnte, nicht befahrbar. Die Schiffe steckten schon im Hafen fest. Das Wasser war plötzlich viskos geworden, unschiffbar. Die Wasserversorgung der Menschen war überall unverändert gut oder schlecht. Das Wasser aus dem Hahn war flüssig, trinkbar und nicht vergiftet. Die Meere und zunehmend auch die Flüsse wurden zu Gelee. Nichts bewegte sich mehr. Was erst so langsam auffiel, es regnete überall. Auch das gab es so noch nicht. Nieselregen auf der ganzen Welt, zumindest dort wo es Küsten oder Flussufer gab. Die Sahara blieb wohl trocken. Das schien aber momentan auch nur von zweitrangigem Interesse zu sein.
Nach einer Stunde im Recherche im Netz, dabei das Radio im Hintergrund sowie den Fernseher, meist auf stumm gestellt, klappte Jakob sein Laptop zu, schob ihn von sich in die Mitte des Tisches und schaltete die anderen Geräte ebenfalls ab. Ruhe, für einen Moment Ruhe. Ruhe zum Nachdenken, zum Wundern und Überlegen. Ratlosigkeit war das am meisten benutzte Wort in den Sendungen und Nachrichten. Keiner wusste etwas und auch keine Wissenschaftler:innen konnten sich den Zustand erklären. Abgesehen von ein paar sehr verwegenen Verschwörungsspinnern, mit sehr abenteuerlichen Ideen, die von Außerirdischen, über geheime Eliten bis hin zu jüdischen Weltverschwörungen so ziemlich alles im Gepäck hatten, was in solchen und anderen Fällen als Erklärung herhalten soll, gab es nichts, das die Ereignisse rational erklären konnten.
Er holte tief Luft. Atmete aus und schloss die Augen für ein paar Sekunden. Nochmal. Dann stand er auf, nahm seine Regenjacke und ging ans Meer. Er wollte das Wasser jetzt nochmal ansehen, jetzt wo klar war, was da war, ohne das klar war, was da tatsächlich war. Ein Ereignis ohne Erklärung.
Es regnete nach wie vor als er vor die Tür trat. Er schlug die Kapuze hoch, weniger als Schutz, sondern weil es ihn mittlerweile einfach nervte. Der Nieselregen war lästig geworden.
Das Meer oder was auch immer da jetzt vor ihm lag, war irgendwie flach, aber keine spiegelglatte Oberfläche wie ein gefrorener See. Eher sah es aus wie ein Modell eines Meeres in einer Ausstellung in einem Meeresmuseum, irgendwie bewegt, aber regungslos, starr. Doch das stimmte nicht ganz. Es bewegte sich, nur extrem langsam, eher Wackelpudding denn Wasser. Die Schiffe und Boote lagen darin wie festgefroren. Hier war es nur das Boot, das er vorhin schon gesehen hatte. In den Nachrichten sah das anders aus. Häfen, Marinas, kleine Becken, große Umschlagplätze, Containerschiffe, Segelyachten, die Megaboote von ein paar Oligarchen (hier freute er sich sogar insgeheim), Fischerboote und was sonst so alles umher schwamm auf den Meeren der Welt: es steckte fest. Aus der Vogelperspektive sah alles aus wie eine Welt im Modellformat. Da kein Wasser, außer dem Trinkwasser, davon ausgenommen war, waren auch die Flüsse nicht länger schiffbar und konnten auch nicht einfach so überquert werden. Auch wenn Wasser und Gewässer immer eine Grenze markierten, ganze Länder und Nationen, ja sogar Sprachen an ihnen endeten und neue begannen, so gab es auch immer eine Verbindung. Das Mittelmeer, war ein Meer in der Mitte von Kulturen. Heute die südliche Grenze Europas, die militärisch befestigt wurde, soweit man das auf dem Wasser überhaupt nur machen konnte. In der Antike die Verbindung zu anderen Reichen. Wasser war Leben, erinnerte er sich an einen Musiktitel einer Band von Tuaregs. Wie wahr und überlebenswichtig, wenn man als Lebensraum vor allem die Wüste hat und ganz anders mit den Ressourcen umgehen muss. Umgeben von Wasser, wenn auch schwer nutzbares Salzwasser, machte sich Jakob, wie er gerade bemerkte, in der Regel darüber nur wenige Gedanken. Und solange es noch Trinkwasser gab, musste er sich auch wenige Gedanken machen, das war allerdings der kleinste Teil allen Wassers auf der Erde. Das meiste war salzig. Aber der Glibber vor ihm, so nannte er das Wasser für sich jetzt, war nun eine Barriere, nicht länger die Verbindung zum Festland, sondern das Hindernis auf dem Weg dorthin. Die Erde war der Planet des Wassers. Es gab mehr Wasser hier als Landmasse, fast dreiviertel der Erde waren von Wasser bedeckt. Unsere Perspektive als Wesen, die sich ohne Hilfsmittel nur sehr begrenzt auf, im und gelegentlich unter Wasser aufhalten konnte, war doch sehr auf das Land fixiert. Versuche uns das Meer Untertan zu machen, es zu beherrschen, vollends zu erkunden, für eine bestimmtes Land gänzlich zu beanspruchen, schlugen immer wieder fehl. Wir behandelten die Meere wie eine flüssige Landmasse und sahen nicht, dass der Versuch zum Scheitern verurteilt war. Das Wasser darin war Rohstoff, Medium um unsere Schiffe zu bewegen, darin zu schwimmen, Abfallbehälter, Jagdgrund, nur scheinbar eine endlose Resource, inzwischen verdreckt, mit Plastik versucht, überfischt, erwärmt. Bisher hatten wir immer Angst, es würde unsere Länder überfluten, lag es jetzt nahezu bewegungslos da. Steigt der Meeresspiegel trotzdem, wird der Glibber jetzt alles einnehmen und was würde das bedeuten. Jakob griff in das flache Wasser, das am Strand lag. Als er die Hand rauszog, perlten feine Tropfen von seiner Hand. Flüssig. Wasser, wie er es kannte. Er nahm einen Stein und schleuderte ihn in die See. Der gleiche Effekt wie vorhin. er ditschte auf, dann wurde er mit einem Rülpser einfach verschluckt. Der Glibber sog ihn förmlich ein.
Er kehrte um. Die beiden Mädchen kamen gleich nach Hause. Er musste mit ihnen sprechen, musste mit Ina sprechen, sich etwas überlegen, wie es jetzt weitergeht. Er musste mit den anderen sprechen. Notfälle und das was andere Leute Katastrophen nannten, Hochwasser, Fluten, Stürme, Ertrinkende, Notfälle zur See, dafür hatten sie hier Pläne und Vorkehrungen.Sie konnten eine Weile ohne die Außenwelt überleben. Und fliegen konnte man auch noch. Auf seiner Insel konnte nur kein Flugzeug landen und auch Hubschrauber hatten da so ihre Schwierigkeiten. Bis dahin ist aber ja noch Zeit.
Die Mädchen hatten Angst. Er versuchte sie zu beruhigen, ihnen die Sorge zu nehmen. Ihre Mutter war nicht hier, würde erstmal nicht wiederkommen. Es gab jede Menge Gerüchte. Jeder hörte etwas anderes in den Nachrichten. Die Bewohner der Insel saßen zusammen, hatten sich am frühen Abend ausgetauscht, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Ina blieb bei ihrer Freundin. Lina in der Schule. Für sie war es die kleinste Veränderung, fast keine, das Wochenende war noch ein paar Tage hin. Das Geräusch des Nieselregens war das letzte was Jakob durch sein offenes Fenster hörte. Es war der begleitende Sound einer vollkommen unklaren Zeit. Was würde morgen sein?, welche Zukunft hatte heute begonnen? – waren seine letzten Gedanken bevor er einschlief.
Jakob war in den vergangenen zehn Wochen jeden Tag um Meer gegangen und hatte das Wasser gefühlt, das ihm immer wieder durch die Finger ran. Jedes Mal. Das Meer als ganzes war aber Glibber geblieben. Sie wurden mit dem Hubschrauber versorgt. Einmal konnte er sogar landen und die Kinder mitnehmen. Er und sein Nachbar Stefan blieben auf der Insel, hielten hier alles in Schuss – auch wenn die Art von Küstenschutz, wie sie ihn bisher gemacht haben, gar nicht mehr nötig war. Aber man konnte ja nie wissen. Von der Welt erfuhren sie aus den Nachrichten, aus dem Radio, übers Internet. Das meiste war zunächst Chaos. Dann Erschöpfung, Hoffnungslosigkeit, komplette Ratlosigkeit, trotz hunderten von Wissenschaftler:innen weltweit, die sich den Kopf darüber zerbrachen, was passiert war und wie oder ob überhaupt etwas zu machen war. Über die Gründe gab es Theorien über Theorien, keine überzeugend, keine mit einem Ergebnis. Nach den ersten Abstürzen großer Verkehrsflugzeuge, musste man feststellen, dass die Ozeane nicht zu überfliegen waren. Irgendwas mit dem Wasser, dem Auftrieb, der Luft, dem Jetstream. Flüsse, Seen und kleine Meeresstraßen waren kein Problem. Kleine Flugzeuge auch nicht. Damit konnte man aber den Ozean kaum überfliegen, Waren schon mal gar nicht transportieren. Die Regierungen mussten sich auf vollkommen neue Verhältnisse einstellen. Der globale Handel wie die Welt ihn kannte, war vorbei. Per LKW und Eisenbahn wurde transportiert, was zu transportieren ging. Der Wille alles aufrecht zu erhalten wie es war, nur mit anderen Mitteln, war groß, aber ein riesiger Kraftakt. Konflikte ließen nicht lange auf sich warten, dauerten aber nie lang. Die Welt rückte zusammen, kurioserweise, wie Jakob gegenüber Ina im Videochat einmal bemerkte, obwohl oder weil sie sich gar nicht mehr so nahe kommen konnte. Er und Ina, die mit den Kindern jetzt am Festland wohnte, wie so viele andere Bewohner der verschiedenen Inseln, einfach weil die Versorgung unkomplizierter war, sprachen jeden Tag. Sie gaben sich Hoffnung, versuchten das Beste aus der Situation zu machen, auch wenn es ihnen oft schwer fiel, eine Art von Hoffnung irgendwie aufrecht zu halten. Der letzte Gang jeden Abend war für Jakob der zum Meer, die Tropfen zu schöpfen und sich zu sagen, dass das Meer bald wieder so sein würde. Danach ging er schlafen. Ohne Ausnahme.
So auch an diesem Abend. Die Sonne stand schon tief, es war mittlerweile Oktober geworden. Er schlug die Kapuze seiner Signaljacke über den Kopf. Auch wenn er mittlerweile mit den Nieselregen Freundschaft geschlossen hatte, so war es doch schon zu kalt draußen, um einfach mal naß zu werden. Er hatte schon lange nichts mehr zum Regen gesagt, murmelte heute aber kaum verständlich vor sich her, „hört dass denn die auf… .“ Nach ein paar Metern blieb er stehen, zog die Kapuze vom Kopf, schaute nach oben, öffnete die Arme, hielt die Handflächen nach oben. Nichts. Kein Regen. Zur Kontrolle schaute er in eine Pfütze. Kein Regen sichtbar. Der Himmel bewölkt, ein Oktoberabend, aber kein Regen. Er schaute auf das Meer. Wie immer, oder? Ganz dort hinten meinte er, dass sich das kleine Boot, dass seit Monaten nun im Glibber feststeckte sich bewegen zu sehen. Irgendetwas wippte, wie es nur auf bewegter See wippen konnte.
Alles sah wieder wie vorher aus. Nichts war so, wie es je war.
