„Als ich über dem Grab von Max Weber Adorno fast auf die Fresse gehauen hätte…..“

(eine Kurzgeschichte nach einer wahren Anekdote. Aufgezeichnet und weitergepsponnen von Nils Zurawski)

Max und Marianne

Wenn man von der Rohrbacherstraße kommt, windet sich ein Weg den Hügel hoch, fast wie alpine Serpentinen. Gesäumt von Bäumen, blühenden Stauden, frischen Blumen und Kränzen lagen die Gräber im fahlen Sommerlicht, das durch die Laubkronen schien. Der Bergfriedhof von Heidelberg war zu jederzeit ein Besuch wert, an einem frischen Frühsommertag aber besonders. Noch unberührt lag der Park da. Wenige Menschen waren unterwegs. Ein paar Gärtner kümmerten sich um Park und Gräber. Man musste dem Weg ein paar Schleifen lang folgen, der Blick lohnte sich mit jeder Kurve mehr, die man den Hügel hinauf stieg. Die Gräber wurden größer, Familiengruften mit großen Steinen begleiteten den Weg. Als es wieder etwas flacher wurde, eine Art Plateau, an einer kleinen Wegabzweigung, lag es da. Das Grab von Max und Marianne Weber. Dem großen deutschen Soziologen und seiner Frau. Ein riesiger Stein, verwaschen, mit einer Erklärtafel daneben, damit zufällige Besucher auch wussten, wessen Grab sie hier bestaunen konnten. Der Grabplatz war enorm groß im Vergleich zu den umliegenden Ruhestätten, nicht ganz ordentlich an diesem Tag, dafür erreichten den an den Rändern bemoosten Stein die ersten Strahlen, die durch die Bäume kamen. „Max Weber 1864 – 1920“ lautet die Inschrift, daneben die Geburts- und Todesdaten seiner Frau Marianne.

1964 / Emmendinger

„Emmendinger, kommen Sie rein!“
„Chef?!“ Johann „Dscho“ Emmendinger betrat das Büros des Chefredakteurs der Neckarzeitung und wartete. Alois Becker war noch damit beschäftigt ein Telegramm zu lesen, erst danach schaute er hoch und Emmendinger an.
„Sie machen den Kongress. 100 Jahre Max Weber, heute kommen die Amerikaner, die Exilanten, Adorno wird die Eröffnungsrede halten. Außerdem soll er einen Kranz am Grab von Weber niederlegen. Sie gehen in den Heidelberger Hof und schauen, ob sie etwas zu berichten finden.“

Emmendinger schaute ihn an. Soziologen, dachte er enttäuscht, Kracherthema. Er nickte, dem Kopf gesenkt. Was hätte er auch tun sollen.

„Es gibt da einen Assistenten, der organisiert hier alles vor Ort. Fragen Sie den, der kann
Ihnen bestimmt helfen!“

Emmendinger rührte sich nicht, dachte da kam noch was. Kam aber nicht. Becker hatte den Kopf schon wieder gesenkt und las in den Papieren, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Als sich Emmendinger nicht rührte, schaute er nochmal kurz hoch.

„Worauf warten Sie? Auf dem Platz sind Sie doch auch schneller!. Wie läuft es übrigens?“

Emmendinger schaute überrascht. Seit wann interessiert sich sein Chef für Rugby. Er spielte bei der Rudergesellschaft, die in diesem Jahr nicht ins Finale gekommen war. Die Meisterschaft war im Norden geblieben. Hannover 78 hatte St. Pauli geschlagen. Der Süden, Heidelberg, ging in diesem Jahr leer aus. Das schmerzte alle hier sehr. In der Regel waren die Endspiele eine Sache zwischen Hannover und Heidelberg, mal die, mal wir, aber in diesem Jahr kamen die Hamburger mit ihrem starken Team dazwischen. Emmendinger war Außendreiviertel. Becker hatte noch nie Interesse für seinen Sport gezeigt, ganz der Intellektuelle, der er war oder sein wollte. Warum sonst das Interesse an einem Soziologenkongress. Aber Heidelberg war eine Studentenstadt, die Gelehrten waren eine Größe hier und Max Weber insbesondere.

„Naja. Die Meisterschaft ist im Norden geblieben. Die Heidelberger waren nicht dabei. Keine der großen Mannschaften!“
„Dann halt im nächsten Jahr. Und nun sehen Sie zu, dass Sie das ordentlich machen. Da kommt Prominenz in die Stadt.“

Jetzt konnte er gehen. Becker beachtete ihn nicht mehr. Emmendinger verließ das Büro, sammelte an seinem Schreibtisch in der Redaktion noch Block und Bleistift ein und verließ den Verlag.

„Max Weber“, murmelte er vor sich hin, „ausgerechnet“. In Heidelberg war an dem Gründungsvater der deutschen Soziologie kein Vorbeikommen.Lange hatte er hier residiert und gelehrt, wichtige Werke verfasst. Zu seinem 100sten Geburstag hatte die Deutsche Gesellschaft für Soziologie den Ort ihres Soziologentages dann eben nicht zufällig nach Heidelberg gelegt. Er musste jetzt diesen Assistenten finden, aber vorher noch im Heidelberger Hof vorbeischauen und sehen, was er rausfinden konnte. Er kannte eines der Zimmermädchen, Ingrid, ihr Bruder spiele mit ihm bei der Rudergesellschaft.

Heidelberger Hof

Als er das Foyer betrat herrschte einigermaßen Betrieb im Hotel. Es standen einige Limousinen vor dem Portal, Träger schleppten große Koffer, es wurde Englisch gesprochen, auch französisch, eine fast weltläufige Geschäftigkeit im kleinen Heidelberg. Emmendinger suchte Ingrid. Sie rauchte eine Zigarette in dem kleinen Hof bei der Wäscherei. Viel wusste sie nicht, aber dass das Hotel ganz schön in Aufregung war, auch weil die Universität, der Rektor und einige der Professoren ziemlich viel Wind machten. Den Assistenten hatte sie auch schon mal gesehen, ein ganz netter Typ, etwas verwirrt meinte sie. Der sei für für die ganzen Kleinigkeiten zuständig, war bestimmt einmal am Tag hier und organisierte die Zimmer und was so anfiel. Er müsse am Empfang nur fragen, die helfen ihm bestimmt. Er gab ihr einen Kuss und ließ ihr seine Schachtel amerikanischer Zigaretten da, die er von einem seiner amerikanischen Soldaten-Freunde bezog. Zurück im Foyer ging er schnurstracks zur Rezeption und sprach mit Karl, der Dienst hatte. Er kannte Karl noch von der Schule.

„Kennst du den Typen von der Uni, der hier was mit dem Kongress zu tun hat?“
„Klar.“
„Und?“
„Der kommt meist gegen Mittag. Heute ist der aber schon da, weil die amerikanischen Gäste eintreffen. Ich hab ihn schon gesehen. Soll ich suchen?“
„Bitte….“
Karl verschwand durch die Tür hinter ihm. Als er wieder kam, grinste er.
„Muss gleich runter kommen. Der bringt Herrn Adorno gerade auf sein Zimmer.“
„Adorno“, dachte sich Emmendinger. Auch wenn er nicht vom Fach war, so war ihm der Name doch geläufig. Philosoph, eine echte Größe. Becker hatte von ihm als einem der Emigranten gesprochen, die zum Kongress kommen würden. Dabei war er schon zehn Jahre wieder in Deutschland und seit einem Jahr Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

Karl tippte ihm auf die Schulter und zeigte mit einem Kopfnicken auf die zwei Männer, die die Treppe runtergingen. Ein kleiner mit Glatze, dicken Brillengläsern und einem starren Blick vorweg, ein junger hinterher, sichtlich genervt. Emmendinger ging auf die beiden zu. Der kleine Mann ging stumpf an ihm vorbei. Beachtete ihn nicht. Der andere blieb stehen. Beide sahen Adorno nach wie er zur Rezeption ging, wo er Karl ansprach. Dann diskutierten sie und es dauerte nicht lang und Karl holte seinen Chef. Der Assistent stellte sich als Christian vor. Er war nett, ein wenig nervös, vor allem aber entnervt.

„Was ist passiert?“, fragte Emmendinger.
„Adorno wollte eine Badewanne, das Zimmer hat aber nur ein Dusche. Außerdem waren ihm die Bettdecken zu dünn, er würde immer so frieren um diese Jahreszeit… .“
„Und?“
„Naja, nach einigem Theater im Zimmer, regelt er die Sachen jetzt mit dem Direktor selbst. Eine echte Diva der kleine Mann.“
„Wo können wir uns ungestört unterhalten. Ich brauche ein paar Infos zum Kongress, zu den Gästen. Können Sie mir da helfen?“
„Ich denke schon. Wenn Sie Zeit haben, begleiten Sie mich doch, ich möchte meine Frau von der Schule abholen, auf dem Weg können wir reden, vielleicht noch etwas zu Mittag essen.“

Auf dem Weg erfuhr Emmendinger, dass die Deutschen ihre amerikanischen Kollegen mit Nervosität erwarteten, aber insbesondere auch Theodor Adorno aus Frankfurt. Aber nicht nur das machte alle nervös. Die Professoren hierzulande hatten auch allein schon genug Streit und Eitelkeiten auszutragen. Adorno sollte von Christian besonders betreut werden. Einer der Höhepunkte sollte eine Kranzniederlegung am Grab von Max Weber sein, wofür er alles organisieren sollte. Sein Chef verließ sich auf Christian, war er doch zu sehr mit seinem Eröffnungsvortrag beschäftigt, außerdem extrem kompliziert. Die Kranzniederlegung auf dem Heidelberger Bergfriedhof sollte morgen stattfinden. Emmendinger sah das Foto schon vor sich: Adorno am Grab von Max Weber mit Kranz. Schlagzeile: „Der Rückkehrer ehrt den Vater der deutschen Soziologie.“ Er müsste in der Redaktion nach einem Fotografen fragen. Aber da kannte er schon einige.

„Wann morgen?“
„Ich werde Adorno so gegen zehn am Nachmittag im Hotel abholen. Mühlmann leiht mir sein Auto.“
„Ich werde am Friedhof auf Sie warten, dann machen wir da ein Foto und ich schreibe eine schöne Geschichte als Vorbericht zum Kongress, was meinen Sie?“
„Abgemacht“.

Christian erzählte ihm noch von dem Programm, dem Ablauf, der Eröffnungsveranstaltung, wann er selbst seinen Vortrag halten sollte. Mit dem Titel fing Emmendinger nichts an – „Max Weber und der heutige Stand der Paria-Forschung“ – immerhin ging es um Max Weber, das fand er gut. Vielleicht wäre da noch Platz im Artikel für Christian. Das musste er aber erst später entscheiden. Sie unterhielten sich noch eine Weile, aßen eine Suppe und nahmen danach noch einen Kaffee.
„Dann bis morgen also. ich muss noch mal in die Redaktion, ein paar Sachen erledigen.“
„Ja bis morgen. Ich muss auch noch Mal in die Universität.“
Sie gaben sich die Hand, verabschiedeten sich und gingen in verschiedene Richtungen.

Der Balkon

Emmendinger machte einen kurzen Stopp in der Redaktion, besprach sich kurz mit Becker, der ihm Schorsch Werle als Fotografen einteilte. Ein erfahrener Mann. Mit Schorsch verabredete sich Emmendinger zu halb zehn am nächsten Tag am Verlagshaus. Dann verließ er die Redaktion. Er wollte vor dem Training noch eine Stunde schlafen.

Als er vom Training nach Hause fuhr, hätte er die beiden fast über den Haufen gefahren. Christian, der Assistent und dessen Frau standen vor einem Haus in der kleinen Gasse im Heidelberger Zentrum, schauten sich um, unterhielten sich, berieten. Es war offensichtlich, dass sie ein Problem hatten, aber keine Lösung. Emmendinger war fast vorbei gefahren, als er sie sah, bremste und drehte sich um.
„Christian, sind Sie das?“
„Johannes?“
„Dscho…!“
„Wir haben keinen Schlüssel dabei. Wir haben den wohl beim Gehen vergessen oder ich habe ihn im Institut liegen gelassen.“
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
„Ich weiß nicht. Wir werden wohl in ein Hotel gehen müssen… .“
„Der Hauseigentümer…wohnt der hier?“, wandte Emmendinger fragend ein.
„Ja, aber lieber nicht, wir haben die Wohnung noch nicht lang. Um diese Zeit, das könnte er uns übel nehmen.“
Emmendinger überlegte kurz, sah sich um, sah am Haus hoch und dachte kurz nach.
„Vielleicht weiß ich da etwas. Wo wohnen Sie in dem Haus?“
„3. Stock“, sagte Christian überrascht.
„Ich habe einen Freund, der wohnt im Nachbarhaus, vielleicht kann der uns helfen.“

Emmendinger ließ ein Rad stehen und klingelte am Haus nebenan. Es war spät, aber noch nicht zu spät. Ein Fenster ging auf, ein Gesicht schaute heraus,
„Dscho…?“
„Alfons, ich bin es. Mach uns auf, Du musst uns helfen.“
Kurz darauf ging die Tür auf, Alfons stand in der Tür. Emmendinger erklärte die Lage. Sein Plan könnte funktionieren. Vom Dachboden aus sollte sich Christian auf seinen eigenen Balkon abseilen, die Balkontür öffnen und wäre in seiner eigenen Wohnung. Alfons, ein Freund und Mitspieler von Emmendinger ging in den Keller und sucht nach einem festen Seil.

Alfons und Emmendinger hielten das Seil, Christian stieg aus der Dachluke, das Seil um seinen Bauch gebunden wie bei einem Bergsteiger. Seine Frau schaute dem ganzen skeptisch, ängstlich zu und rief in unregelmäßigen Abständen mit ihrer hohen Stimme seinen Namen. Sie schaute aus der Dachluke und versucht die beiden auf dem Dachboden zu dirigieren, denn der Abstieg war nicht ohne. Christian hing an dem Seil, baumelte vom Dach herunter. Sein Balkon war der erste von oben, nur lag er nicht in einer Linie mit dem Fenster. Die beiden Männer hielten das baumelnde Seil und Christian versuchte sich auf seinen Balkon zu schwingen. Nach zehn Minuten landete er mit knapper Not auf dem Balkon. Er überlegte nicht lange und zerschlug die Balkontür. Das Glas könnte man leicht ersetzen. Er machte den anderen auf und holte ohne zu fragen eine Flasche Cognac hervor. Er goss vier Wassergläser voll. Nach dem dritten begann Christian ein wenig zu erzählen. Vor allem über seinen Chef, Mühlmann, mit dem es nicht immer einfach wäre. Eigentlich wollte er gar nicht nach Heidelberg. Er kam aus Freiburg, aber als junger Assistent musste er nehmen, was es so an Stellen gab. Für Mühlmann sei er hergekommen, aber in Freiburg hätten sie ihn auch schon gefragt. Ein Professor Popitz oder so… Es ging so eine ganze Weile weiter. Emmendinger schwirrte der Kopf. Namen, wissenschaftliche Fragen, soziologische Aufsätze. Das war nicht seine Welt. Christians Frau hatte derweil Schnittchen gemacht. Eine gute Idee zum Cognac.
Teil von Christians Arbeit war es auch, zwei Kongresse mit zu organisieren, und zwar den Völkerkunde-Kongress im letzten Jahr und den Max-Weber-Kongress, der morgen Nachmittag mit der Kranzniederlegung auf dem Friedhof für Christian inoffiziell und mit einer großen Festvorlesung in der Universität offiziell begann. Ansonsten musste er vor allem Mühlmann bei seinen Seminaren helfen, Vorbereitung, Nachbereitung, die Studenten betreuen. Emmendinger konnte zwischen Schnittchen und Cognac aus den Erzählungen heraushören, dass Christian sich besser als die anderen Assistenten fühlte und sich außerdem ein Krach mit Mühlmann anbahnte. Wenn nicht während des Kongresses, so doch gleich danach. Er wollte nach Freiburg. Nach mehreren Cognac schien sich Christian immer sicherer zu werden, seine Frau versuchte ihn zu beruhigen, denn er steigerte sich immer mehr rein. Sie war nach dem zweiten Glas bereits auf Wasser umgestiegen, während Emmendinger den Cognac brauchte um mitzukommen, und Christian jetzt erst so richtig in Fahrt kam. Nachdem Alfons sich verabschiedete, trank Emmendinger noch ein letztes Glas und machte sich ebenfalls auch den Weg nach Haus. Morgen, vier Uhr, rief er noch durch das Treppenhaus. Sein Fahrrad schob er.

Der Kranz

Das Wummern aus seinem Kopf ging nicht weg. Es wurde doller, dann sogar rhythmisch, bis er von Ferne seinen Namen hörte.
„Emmendinger, bist Du da?“
Das Rufen wurde lauter. Der Lärm kam näher. Emmendinger schreckte hoch.
„Emmendinger, Mach die Tür auf, wir sind spät dran.“
Schorsch Werle hämmerte an seine Tür. Emmendinger sah auf den Wecker, halb zehn. Er hatte verschlafen. Zu viel Cognac.
Er öffnete. Schorsch stand da, Kamera um den Hals.
„Mooch hii“, pflaumte er Emmendinger in seinem derben heidelberger Dialekt an.
„Viel?“
„Geht. Isch hob gedocht, i schau glei noch, wo du net beim Verlag warsch.“

Im Auto sagte er wenig, noch war Zeit. Christian wollte Adorno um zehn Uhr im Hotel abholen. Sie waren auf jeden Fall vor ihnen am Friedhof. Weit war es nicht. Die Cognacs gestern hatten ihm zugesetzt. Ganz frisch fühlte er sich immer noch nicht. Wieviel genau es waren, bekam er nicht mehr zusammen. Er hatte vor allem getrunken, zusammen mit Alfons. Christian hatte geredet und getrunken. Er hatte ganz schön angegeben. Trotzdem, Emmendinger mochte ihn. Er wollte auf keinen Fall zu spät kommen.

Sie mussten unten am Friedhof parken gleich hinter dem Tor. Es war ein schöner Tag, der Friedhof kaum besucht an diesem Freitagmorgen. Sie machten sich im Laufschritt auf den Weg, den Anstieg hoch zu Max Webers Grab. Emmendinger fühlte sich elend, die erste Euphorie nach dem Aufstehen wich seinem Kater. Mehrmal musste er kurz anhalten und tief Luft holen, er wollte sich hier auf dem Friedhof nicht auch noch übergeben. Als sie Max Webers Grab näher kamen, hörten sie Stimmen. Christian und Adorno mussten schon da sein. Die Stimmen wurden lauter. Stritten sie? Als sie fast oben waren hielt Emmendinger den Fotografen Werle zurück: „Warte!“ Sie standen gut und konnten die beiden Soziologen beobachten, ohne dass diese auf sie aufmerksam wurden. Adorno schaute Christian mit seinen großen Augen fragend an. Irgendwas zwischen Wut und Verständnislosigkeit, zwischen Enttäuschung und tiefer Kräkung. Christian gestikulierte aufgeregt vor sich hin, lief ein Stück zurück, drehte sich um, blieb stehen, schüttelte den Kopf, kehrte um und hielt beiden Arme fragend herab. Er konnte seine Wut kaum im Zaum halten, man sah es ihm an. Die Hände zitterten, er versuchte sie mit Macht gerade nach unten zu strecken, keine offene Drohung auszusenden. Laut genug für die beiden heimlichen Beobachter sagte er: „Was wollen Sie, Professor Adorno?“ Adorno hielt einen Kranz in der Hand, linkisch, umständlich hantierte er mit dem Blumengebinde. Worum es genau ging, war nicht genau auszumachen. Christian bedeutete Adorno den „verdammten“ Kranz endlich hinzulegen und unterstrich das mit der entsprechenden Handbewegung. Der sah ihn an, immer noch erstaunt, als verstünde er die ganze Aufregung nicht, die Christian sichtbar zur Weißglut brachte. Er ballte die Faust, bewegte den Arm zurück, warf den Kopf zurück und schaute in die Luft, als wenn von dort die Lösung für das offentliche Problem kam. Ließ die Schultern fallen uns sackte symbolisch in sich zusammen nur um im nächsten Moment mit voller Anspannung auf Adorno zuzugehen, der Körper nach vorn geneigt, angriffslustig, wütend. Das war der Moment in dem sich Emmendinger entschloss sein Versteck zu verlassen. Er und Werle gingen die letzten Meter schnellen Schrittes auf die beiden Streithähne zu, die sie kaum bemerkten.
„Guten Morgen Christian. Herr Professor Adorno… Entschuldigen Sie die Verspätung…“
Adorno sah die beiden verständnislos an, sah zu Christian, zum Fotografen, zum Grab und legte den Kranz ab. Christian hatte immer noch die Faust geballt, ließ den Arm jetzt aber sinken.
„Wir würden gern ein Foto von Ihnen machen, wie sie den Kranz niederlegen. Wäre das in Ordnung für Sie?“
Adorno sagte gar nichts, nickte nur, Christian dirigierte ihn sanft, aber bestimmt vor das Grab. Werle schaute sich das Licht an, wartete und drückte dann ein paar Mal ab.
„I hobs! Dscho, gehen wir?!“
Emmendinger blickte zu Christian. Christian zu Adorno, bedeutete ihm den Kranz liegen zu lassen und zu gehen. Sie gingen vor, Adorno folge verwirrt dahinter.

„Was war los?“
„Er war nur am Zetern, das Hotel passt ihm nicht, die Wanne war nicht richtig, überhaupt war die Betreuung nicht nach des Herrn Gusto. Dann hier am Grab. Ihm passte das alles nicht, sein Vortrag sei nicht genug gewürdigt. Das Fotos sei profanes Zeug, warum er hier überhaupt sein müsste… so ging das seit ich ihn aus dem Hotel abgeholt habe. Der Herr hatte wohl schon schlecht geschlafen, überhaupt Heidelberg. Wenn Sie nicht gekommen wären, hätte ich ihm wohl auf die Fresse gehauen… Ich könnte jetzt einen Cognac brauchen, wie siehts bei Ihnen aus?“
„Zu früh für mich. Ich muss jetzt in die Redaktion, den Artikel schreiben, Werle muss den Film abgeben. Vielleicht später, heute Abend?!“

Sie verabredeten sich in der Altstadt für um fünf Uhr, danach müsste Christian zum Eröffnungsvortrag von Adorno. Emmendinger ging in die Redaktion. Dort traf er auf Becker, der auf dem Weg zum Mittagessen war.
„Haben Sie alles? Hat es geklappt?“
„Ja, aber fragen Sie nicht. Was ein Durcheinander.“
„Essen?“
„Nein, danke, ich schreibe den Artikel fertig.“

Becker sah ihn an, nickte, schüttelte den Kopf, nahm seinen Hut und ging weiter.
„Und fragen Sie mich nie wieder, wenn ein Kongress in der Stadt ist“, schickte er dem gehenden Becker halblaut hinterher, „die sind alle bescheuert!“

2016

Wenn man heute das Grab von Max und Marianne Weber besuchen will, könnte einem ein kleines Grab in dem Weg auffallen, der linker Hand davor abging. Eine bescheidene Platte mit den Daten von zwei Personen. Eine davon liest sich „Christian Sigrist 1935 – 2015. Ein kluger Querkopf“. Um ein Haar hätte er Theodor Adorno über dem Grab von Max Weber damals auf die Fresse gehauen.