Loick, Daniel (Hg.): Kritik der Polizei. Campus Verlag, 2018.
von Friederike Häuser, Hamburg
Kritik der Polizei – das klingt vielversprechend. Seit einiger Zeit häufen sich schliesslich in Deutschland Vorfälle, die eine solche Kritik nötig erscheinen lassen. Rechtswidrige Polizeigewalt, rechte Strukturen, neue Polizeigesetze, der Umgang mit Social Media – all diese Aspekte haben in Bezug zur deutschen Polizei im letzten Jahr für die ein oder andere Verwirrung gesorgt, um es freundlich auszudrücken. Der Klappentext verrät, dass der Band Texte von deutschen und internationalen Intellektuellen und Aktivist*innen beinhaltet. Das bedeutet erst einmal, dass alle Beitragenden an Universitäten und/oder für Initiativen arbeiten und daher von ausserhalb der Institution stammen. Der Band ist in fünf Teile gegliedert und umfasst Beiträge aus den Disziplinen Soziologie, politischen Ökonomie, Geographie, Philosophie, Geschichte und Polizeiwissenschaften.
Daniel Loick stellt sich als Herausgeber der Herausforderung, mit dieser Versammlung von Texten einen internationalen Überblick zur Kritik der Polizei anzubieten.
Doch bevor es zum Inhalt geht, ist meines Erachtens das Coverbild noch eine Erwähnung wert. Es ist eine Hand zu sehen, die gegen das Schutzschild eines Polizisten hält und zwar aus Perspektive des dagegenhaltenden Menschen. Es sind keine Gesichter zu sehen und das Schutzschild ist zerkratzt. Zwei große Schrauben halten ein undurchsichtiges Geflecht an Abschirmmaterial zusammen. Der Mensch dahinter ist nicht zu erkennen. Welchen Eindruck vermittelt das Bild? Es prallen zwei Meinungen aufeinander, zwei Haltungen, vielleicht sogar zwei Welten. Die Schutzhaltung sagt ausserdem ein Gegeneinander aus, aber natürlich lautet hier die Frage: von welcher Seite geht eine Bedrohung aus?
Loick schreibt in der Einleitung darüber, was er als Polizeikritik bezeichnet, spannt einen Bogen um das Thema und wirft bereits allerhand aktuelle Fragen um dieses Thema auf. Er macht zuletzt noch auf eine schöne Art und Weise deutlich, dass Kritik als solche immer einer subjektiven Sichtweise unterliegt, indem er einerseits sagt, dass die Vorstellung, die Polizei abzuschaffen, etwas Beängstigendes habe. Auf der anderen Seite wird dann deutlich gemacht, dass eben genau die Existenz der Polizei für bestimmte Bevölkerungsgruppen für Angst sorgt. Insofern ist an dieser Stelle auch inhaltlich bereits das Titelbild widergespiegelt: es gibt immer – und mindestens – zwei Seiten der Medaille. Die Einleitung ist sehr schön zu lesen und macht Lust auf mehr.
Der erste Teil, der die Geschichte der Polizei behandelt, wird mit einem älteren Text von Foucault eingeleitet. Es ist, als müsse er, wenn es um das Thema Polizei geht, immer dabei sein. Wirklich Neues erfährt man hier nicht, es wird lediglich deutlich gemacht, dass schon in den frühen theoretischen Betrachtungen der Regierungsaspekt der Institution eine Rolle spielt. Besonders ist bei diesem, dass neben der verwaltenden Tätigkeit noch die moralische Funktion hinzukommt. Diese “Mischung aus Moralität und Arbeit” (S.40) bedeutet Folgendes: der Staat und die Bürger*innen: irgendwie getrennt und irgendwie nicht zu trennen.
Mark Neocleous, schreibt anschliessend über die Verquickung polizeilicher Aufgaben und der Ökonomie. Sein Beitrag ist bezogen auf die Entwicklungen in Frankreich und England und gestaltet sich inhaltlich sehr definitorisch. Er ist auch sehr rückwärtsgewandt – was in Anbetracht des Ziels die Geschichte darzustellen nicht verwunderlich ist – aber doch in dem Sinne, als dass er als eigentliches Ziel angibt, den Gebrauch des Polizeibegriffs in der Gegenwart darzustellen. So kurz nach Foucault ist dieser Beitrag ein recht hochschwelliger Einstieg.
Die Geschichtsprofessorin Sally Hadden geht noch weiter zurück in der Geschichte und fängt in den 1630ern und bei der Sklavengesetzgebung an. Es ist schon interessant wie die Vorgänger der Polizei aussahen, aber das hat wenig mit einer Kritik an ihr zu tun. Die Entwicklung von Sklavenpatrouillen, Nachtwachen oder anderen Vorläufern werden nämlich nicht direkt in Bezug zu der heutigen Polizei gesetzt.
Spätestens hier ist der Lesespaß vom Anfang aus der Einleitung verflossen. Es geht so weit zurück, dass die Vorstellungen, die der Titel kreiert, erstmal aufgeschoben scheinen. Der gesamte erste Teil wirkt eher wie ein Muss im Sinne von: das macht man so, dass man erstmal auf die Geschichte eingeht. Es ist etwas bedauerlich, dass sich der Schwung in der Einführung in diesem Teil verlangsamt.
Umso erfreulicher geht es im nächsten Teil weiter: “Die Polizei gegen die Demokratie”, den Maximilian Pichl mit seinem Beitrag zum Unvermögen exekutive Gewalt einzuhegen eröffnet. Hier beginnt nun die Kritik im Sinne von handfester Beanstandung, und zwar anhand eines aktuellen Beispiels. Er leitet schnell zwei Kernpunkte der Kritik an der deutschen Polizei her: erstens die fehlende Kennzeichnungspflicht und zweitens die Problematik, dass Vorfälle polizeilichen Fehlverhaltens durch Personal des eigenen Polizeiapparats untersucht werden.
Auch in Belinas Beitrag finden seine theoretischen Überlegungen direkte Anwendung auf die Phänomene der Praxis von Polizeiarbeit, was sehr erfrischend ist. Er diskutiert exemplarisch die polizeiliche Praxis des Racial Profiling als Standardmaßnahme an sogenannten “gefährlichen Orten”. Belina gelingt hier eine deutliche Kritik, indem er die Widersprüche zwischen der rechtlichen Grundlage von Repression und der Ausführung ebendieser benennt. Erstere erscheinen exakt und letztere ist individuell, da eigene Vorstellungen und Interessen der Beamt*innen eine Rolle spielen (S. 120). Als zentrales Problem wird hier also festgestellt, dass die Polizei über ein hohes Maß an Ermessensspielraum verfügt. Was er aus seiner Kritik ableitet ist, dass die Polizei sich im Diskurs auf ihre Deutungshoheit verlassen kann, dass ihr Vorgehen politisch gedeckt wird und dass in Deutschland eine unabhängige Forschungstradition zu diesem Themenbereich fehlt.
Das Thema des Ermessensspielraums wird auch im folgenden Beitrag von Didier Fassin wieder aufgenommen. Neben der Befugnis zum Einsatz physischen Zwangs hält er diesen für ein wesentliches Definitionsmerkmal der Polizei. Weitergehende Kritik bleibt dann allerdings leider aus und es wird eher von der eigenen Beobachtung berichtet. Dies ist durchaus interessant, aber insgesamt auch eher eine Beschreibung der Schieflage was Gerechtigkeit in der Polizeiarbeit angeht. Fassin leitet daraus statt Kritik eher eine Empfehlung für die Methode der kritischen Ethnografie ab, nämlich mehr Brücken zwischen der Mikro- und der Makroebene zu schlagen, also “…die individuellen Handlungen also mit strukturellen Prozessen in Beziehung zueinander zu setzen” (S. 160).
Im dritten Teil behandeln zwei Beiträge das Thema Polizei und Rassismus, wobei dieses Thema auch in vielen anderen Beiträgen erwähnt wird. Hier allerdings findet erstmals im Band Bewertung statt. Das mag daran liegen, dass der Artikel von einem Autor*innenkollektiv der Berliner Kampagne “Ban! Racial Profiling – Gefährliche Orte abschaffen stammt”. Dieses Kollektiv stellt dar, warum Racial Profiling als Mechanismus von institutionellem Rassismus zu bewerten ist und leitet anschliessend über in eine Diskussion, wie man solidarisch gegen Racial Profiling aktiv werden kann. Dass praktische Konsequenzen aus der Kritik gezogen werden ist das Neue und Positive in diesem Abschnitt. Besonders aber, dass auch Betroffene in diesem Beitrag zu Wort kommen, bildet meines Erachtens eine wichtige Basis für konstruktive Kritik.
Der vierte Teil beinhaltet drei Beiträge zur Polizei im Neoliberalismus, die allesamt aufzeigen, wie komplex die Aufgaben der Institution Polizei im Zuge des Neoliberalismus geworden ist. Aufgrund dessen gibt zum Beispiel Kendra Briken zu bedenken, dass die Orientierung auf Zahlen und evaluative Verfahren als Verschärfung der ohnehin im polizeilichen Handeln eingeschriebenen repressiven Macht- und Herrschaftsverhältnisse besonders hinterfragt werden müssen (S. 236). Der schon oft angebrachte Kritikpunkt des Ermessensspielraums sind im Neoliberalismus nun auch von der Orientierung an Kennzahlen geprägt, so Briken.
Der fünfte und letzte Teil versammelt Beiträge, die eher auf das Themengebiet Gewalt, als auf die Polizei direkt zielen. Auch hier wird letztlich wiederholt, dass Law-und-Order-Strategien im Umgang mit sozialen Problemen eng mit dem Wohlfahrtsstaat verquickt sind.
Meine Kritik an der vorliegenden “Kritik” ist ein Mangel an Kritik. Dadurch, dass der Band zum großen Teil aus bereits veröffentlichten bzw. bestehenden Schriftstücken besteht, die übersetzt und oder zusammengetragen wurden, ist oft die typische universitäre Schreibweise herauszulesen, die sich eben um eine direkte Positionierung oder gar eine Meinung /Stellungnahme drückt, sondern eben bloß darstellt. Inwiefern in einer solchen Schreibweise Kritik stattfinden kann ist die Frage, denn für echte Kritik muss man sich zumindest zum Teil der wissenschaftlichen Objektivität entledigen und über das Beschreiben von Phänomenen hinausgehen. Oder aber es gilt, beides zu verknüpfen. Dies schafft nur ein kleiner Teil der Beiträge. Ausserdem wäre es meiner Meinung nach von großer Bedeutung gewesen, hätten Stimmen aus der Institution Polizei selbst Platz gefunden. Kritische Polizist*innen gibt es und sie würden sicherlich eine Bereicherung der Sichtweisen darstellen.
Nach der Lektüre ist festzustellen, dass die Aufteilung der Beiträge in die fünf Teile schwer einzuhalten ist, sondern sich die Inhalte überschneiden. Das ist letztendlich auch eine der wichtigen Erkenntnisse, dass eben die Phänomene, die Anlass zur Kritik bieten, strukturell immanent sind und keine voneinander getrennt zu beobachtende Problembereiche. Sagt Loick noch in der Einleitung, dass die Überlegung, die Polizei abzuschaffen etwas Beängstigendes habe, ist am Ende festzustellen, dass diese Angst so abschreckend ist, dass sich niemand richtig damit zu befassen traute.
Lediglich im letzten Beitrag wird die Idee erläutert, wie es wäre wenn es keine Polizei gäbe (sie hierzu z.B. das Buch End of Policing). Das klingt drastisch, aber viel bedeutender ist doch eigentlich die Erkenntnis, dass diese Institution und ihr Handeln nie gänzlich hinterfragt wird und ihre Abschaffung umso unrealistischer scheint – selbst als theoretische Betrachtung.
(Alle Seitenangaben beziehen sich auf das rezensierte Werk)