Rezension: Inside Story

Rezension: zusammen mit Criminologia-LogoKopie

Lois Presser: Inside Story. How Narratives Drive Mass Harm. 2018. Oakland: University of California Press.

von Christian Hammermann, Hamburg

Am 4. Dezember 2016 stürmte der mit einem Sturmgewehr bewaffnete Edgar Welsch das Washingtoner Restaurant Comet Ping Pong, um einen von Hillary Clinton betrieben Kinderprostitutionsring auffliegen zu lassen. Er wollte die dort gefangenen Kinder retten – nur fand er keine. Mit dieser Geschichte leitet Lois Presser ihr Buch Inside Story . How Narratives Drive Mass Harm ein, das ihre in Why We Harm (Rutgers UP, 2013) entwickelte “Narrative Kriminologie” fortsetzt. Während sie dort untersucht hatte, welche Art von Geschichten Menschen sich und anderen erzählen, um zu legitimieren, dass sie anderen Lebewesen schaden, fragt sie in Inside Story, wieso Erzählungen uns überhaupt zu etwas bewegen können.

Dieses “etwas” ist dabei weit gefasst. In Why We Harm hatte Presser vier phänomenologisch sehr verschiedene Schadensformen untersucht: Genozide, Fleischkonsum, Gewalt gegen Partner*innen und den Strafvollzug. Sie alle verbindet eine gemeinsame kulturelle Logik, die sich in den Erzählungen der jeweils Schadenden als reduction und power paradox ausdrücke. In den Erzählungen wird das Objekt des Schadens nicht als individuelles Subjekt betrachtet, sondern in irgendeiner Form reduziert – das Genozidopfer ist für die Völkermörder*innen nur Ungeziefer, die straffällige Person für die Vollzugsbeamt*innen nur eine Kriminelle. Das schadende Subjekt hingegen tritt als gleichzeitig mächtig und machtlos auf. Es ist mächtig, weil es schaden darf, aber machtlos, weil es nicht anders kann. Beide Aspekte lassen sich darüber hinaus – und das ist für Pressers Perspektive zentral – auch in der Sozialtheorie wiederfinden. Pressers eigene theoretische Erzählung etwa reduziert Personen auf harm agents und stellt ihre Handlungen als ebenso frei wie determiniert dar, der kreativen agency des Erzählers steht die structure der tradierten Erzählungen gegenüber.

In Inside Story verschiebt Presser ihren Fokus von der Logik der Erzählungen auf deren Wirkungsweisen: “What accounts for the emotional grip of stories?” (S. vii). Sie geht von den kulturkriminologischen bzw. -soziologischen Prämissen aus, dass wir auf Basis der Bedeutungen handeln, die wir Sachen zuschreiben und dass diese Bedeutungen diskursiv konstruiert werden. Einerseits sind Erzählungen moralische Interpretationen der Welt, andererseits wirken sie performativ, wenn wir bspw. etwas tun, um einer bestimmten Selbsterzählung zu entsprechen. Presser fragt also nicht, ob die Geschichten, die wir erzählen wahr sind, sondern ob und wie sie funktionieren: Dass im Keller von Comet Ping Pong kein von Hillary Clinton geführter Kinderprostitutionsring operierte ist banal, dass Edgar Walsch daran glaubte und ihn auffliegen lassen wollte nicht. Und sie antwortet, “that the most commanding stories remind us of the precariousness of our existence and offer hope of unremitting control and infinite existence or at least infinite significance. Their resolution is a recognizably stable self” (S. 20).

Wie funktioniert das? Erzählungen sind eine bestimmte diskursive Form und unser Habitus lässt manche diskursiven Formen und manche Formen von Erzählungen bei uns greifen und andere nicht. Presser unterscheidet hier wording und narrative. Wordings sind Formulierungen, worunter auch Klassifikationsschemata und Etikettierungen fallen. Sie gestatten reductions und das Verleugnen von Schaden, etwa durch Euphemismen oder Codes. Narratives geben Erfahrungen wieder und sind komplexer, können aber durchaus auch in verdichteter Form auftauchen, beispielsweise als Metapher – die Grenze zu den wordings ist fließend. Dennoch seien sie “uniquely affecting”, Presser spricht auch vom “narrative exceptionalism” (S. 51) – “narratives situate experiences of agency and structure within lived, time-bounded contexts” (S. 59). Als solche sind sie die perfekte Form, um Emotionen auszulösen. Sie integrieren verschiedene Bedeutungen, entfalten Konflikte, lösen sie auf und moralisieren fortwährend Charaktere, Handlungen und Ereignisse. Dabei reagieren wir besonders stark auf solche Erzählungen, in denen es um unser Wohlergehen und unsere Handlungsmacht geht.

Erzählungen sind figurativ, was ihre invitational edge ausmacht. Sie artikulieren Bedeutungen über Umwege, beispielweise ein moralisches Prinzip durch eine biographische Geschichte. Sie haben Lücken, die wir als Leser*innen mit unseren eigenen Erfahrungen füllen, wodurch wir uns emotional an die Geschichte binden. Wir haben an ihrer Perspektive teil und lernen, auf eine bestimmte Art zu sehen. Gegenüber einem moralischen Traktat sind Erzählungen näher an unserer Alltagserfahrung und rufen Erinnerungen und damit verbundene Emotionen in uns wach. Ebenso sind sie voller Mehrdeutigkeiten, die eine quasi-erotische, verführende Wirkung haben: Wir können uns von ihnen in einer bestimmten Weise angesprochen fühlen, müssen es aber nicht und werden es auch nicht eindeutig. Wir müssen hier selbst wollen, und somit ein bestimmtes Gefühl in die Geschichte investieren. Schließlich erlauben narratives, der Todesfurcht zu entfliehen. Sie erlauben uns, ein Selbst zu entwerfen, das nicht mehr an Raum und Zeit gebunden ist, dessen Bedeutung das hier und jetzt transzendiert. Der Grieche Odysseus mag gestorben sein, der Held der Odyssee lebt ewig. Das zeigt Presser eindrücklich am Beispiel der underdog story – “whose basic point is that the righteous, though few and meek, can triumph over the unjust, who are great and mighty” (S. 86). Diese Erzählungen inszenieren eine Krise, die durch die triumphale Handlung der Protagonist*innen beendet wird. Held*innen und Gegenspieler*innen werden in starken materiellen und moralischen Kontrasten gezeichnet, die Schwachen und Guten kämpfen gegen die Starken und Bösen. Die Chancen stehen schlecht, weswegen auch nicht die Aussicht auf Erfolg lockt, sondern die Ehre, auf der richtigen Seite zu stehen und sei es als Märtyrer*in: “The underdog enterprise gives the lives of recruits, to terrorism or any other mass violence, everlasting significance” (S. 99). Und falls die Guten verlieren, sind ihr Leid und ihre Standhaftigkeit ein Zeichen ihrer moralischen Überlegenheit.

Eine wesentliche Differenz zu Why We Harm liegt in der literarischen Form. Dort trägt Presser eine flüssig geschriebene Erzählung vor, die empirisches Material präsentiert und eine im Wesentlichen auf zwei Begriffe – reduction und power paradox – reduzierbare Theorie schadenslegitimierender Erzählungen entwickelt. Inside Story liest sich dagegen über weite Strecken wie ein Literaturbericht, an die Stelle der Ergebnispräsentation treten Systematisierungen und close readings. Letztere finden sich insbesondere im Kapitel zu Gottfredson und Hirschis General Theory of Crime, die Presser minutiös zerpflückt, um ihre Lücken und ihre Wunscherfüllungsstruktur herauszuschälen: “The story of antisociality is an identity vehicle for the good people among us. First and foremost it adresses our need for agency and control. If we cannot be assured of safety from antisocial others, we can at least be assured that they are being called out and, on that basis, tracked down. […] Intentions are whittled down or denied, including the fact that transgressors have any intentions at all” (S. 132). Gerade in solchen Passagen wird klar, dass es Presser trotz aller Systematik und Bau am theoretischen Gerüst nicht um interessenlose Anschauung oder gar eine Effizienzsteigerung der Strafjustiz geht. Sie fordert von Kriminolog*innen, nicht mehr den schädlichen Erzählungen der Mainstreamtheorien auf den Leim zu gehen, sondern true stories zu erzählen – wahr nicht im Sinne von “den Fakten entsprechend”, sondern eher im moralischen Sinne von “dem menschlichen Potential angemessen”: “The true story opens up the possibility of alternative resolutions and perspectives. […] Closure is a myth we would do well to question whenever it is summoned” (S. 145).

Pressers Ethik des Möglichen kollidiert aber massiv mit dem systematisierenden Aspekt ihres Werks und ihren quasi-anthropologischen Setzungen über die Bedeutung und Wirkung von Erzählungen. Man fragt sich bisweilen beim Lesen, wie es eigentlich sein kann, dass deren fundamentale und scheinbar zeitlose Bedeutung erst seit ein paar Jahrzehnten systematisch erforscht wird – waren bisherige Generationen schlicht zu dumm? Oder ist diese Prominenz der Erzählform vielleicht selbst ein eher junges Phänomen? Letzteres argumentiert beispielsweise Guido Mazzoni in seiner Theory of the Novel (Harvard UP, 2017). Ähnlich wie Presser sieht er in der Erzählform einen Umgang mit der Endlichkeit des Individuums, die seinem biologischen Tod ein symbolisches Überleben entgegenstellt. Zur massenhaften Diskursform taugt die Erzählung aber erst mit Entstehung der modernen Demokratie und dem menschenrechtlichen Postulat von der Gleichheit alles menschlichen Lebens, weil erst dann alle Geschichten das gleiche Recht haben, gehört zu werden – und nicht nur die eines aristokratischen Weltreißenden wie Odysseus. Die sich ausbreitende kapitalistische Gesellschaftsform impliziert aber auch, dass die Individuen zunehmend in einen antagonistischen Gegensatz zueinander und zur Gesellschaft als Ganzer treten. Die Geschichte eines Individuums zu erzählen heißt dann, die Rolle der Anderen darin zu reduzieren, ebenso wie die Spannung zwischen agency und structure zu gestalten, der es ausgesetzt ist – also potentiell den Schaden zu legitimieren und zu tolerieren, ohne den das Leben dieses wie jeden Einzelnen in solchen Verhältnissen nicht auskommt. Die Aufforderung, andere Geschichten zu erzählen, kommt also zu kurz – es käme auch drauf an, andere zu schreiben.

Christian Hammermann, Hamburg