Rezension: Rethinking Surveillance and Control

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Elisa Orrù/Maria Grazia Porcedda/Sebastian Weydner-Volkmann (eds.): Rethinking Surveillance and Control. Beyond the “Security versus Privacy” Debate.  (Sicherheit und Gesellschaft, volume 12), Baden-Baden: Nomos 2017.

von Jonas Vollmer, Berlin

Über den Sammelband

Der Sammelband ist das Ergebnis eines Symposiums, das 2015 am Freiburg Institute of Advanced Studies (FRIAS) stattfand. Aus der Perspektive verschiedener Disziplinen (Kritische Studien, Internationale Beziehungen, Rechtswissenschaft, Philosophie und Soziologie) und Regionen (EU, Italien, Deutschland) diskutiert er das Verhältnis zwischen Sicherheit, Freiheit und Privatsphäre im Kontext der Snowden-Enthüllungen seit 2013 sowie der Anti-Terror-Maßnahmen und Sicherheits- und Migrationspolitik seit 2001.

Zentraler Ausgangspunkt des Sammelbands ist die polarisierende Gegenüberstellung von Sicherheit und Freiheit/Privatheit in vielen politischen und wissenschaftlichen Debatten zu (internationalen) sicherheitspolitischen Fragen seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Vor allem das trade-off model – Privatheit und Privatsphäre müssten in (inter-)nationaler Politik und Rechtsprechung zugunsten der Sicherheit aufgegeben werden – soll hinterfragt werden. Dazu untersuchen die Autoren Überwachung als Ausdruck von Macht und Kontrolle in ihren Auswirkungen, wie beispielsweise gesellschaftliche In-und Exklusion, sowie Freiheit als Privatheit. Ebenso geht es um die verschiedenen rechtlichen und semantischen Bedeutungsebenen von Sicherheit und Risiko (safety, security and risk). Dabei werden Beispiele aus politischen Handlungsfeldern und Informations- und Kommunikationstechnologien herangezogen.

Die Beiträge des Sammelbands im Überblick

Kapitel 1 bis 3 konzentrieren sich auf die (inter-)nationale Terrorbekämpfung mittels US-Sanktionen, Flughafenkontrollen und Überwachung durch die US-Geheimdienste. Sie reflektieren dabei Konzepte für Sicherheit, Risiko und verschiedene Rechte.

Patrick Herron (Kapitel 1) kritisiert am Beispiel des UN-Komitees für Sanktionen gegen AI-Qaida und die Taliban (1267 Comittee) liberale Modelle, die Freiheit als einen gegenüber Sicherheit auszubalancierenden Konterpart betrachten, und plädiert für das Modell republikanischer Freiheit: Freiheit als Nicht-Beherrschung (statt Nicht-Einmischung), Freiheit und Sicherheit als sich gegenseitig bestärkend statt sich antagonistisch gegenüberstehend.

Sebastian Weydner-Volkmann beschreibt in Kapitel 2, wie sich seit 9/11 und dem historischen Wandels des Risikomanagements in der Sicherheitspolitik Flughafenkontrollen unter dem Paradigma der risikobasierten Passagierkontrolle (risk based passenger screening: RBS) wandeln. Mit der Einteilung von Passagieren in verschiedene Risikogruppen (mit unterschiedlicher Agressor-Wahrscheinlichkeit) und dementsprechend intensiver Kontrolle (screening) gilt RBS als proaktiver Versuch, das Trilemma zwischen effektiver Sicherheitsgarantie, Kosten für Industrie und Flugpassagiere sowie ethischer, rechtlicher und gesellschaftlicher Konsequenzen zugunsten von mehr Sicherheit im Flugverkehr zu lösen. Weydner-Volkmann entwickelt drei Varianten des RBS-Paradigmas, die je unterschiedliche Implikationen für das Trilemma beinhalten: Passagiergruppenbildung gemäß a) Kontextdaten zur allgemeinen Bedrohungssituation (situational risk based screening), b) zuvor erhobenen persönlichen Daten (profiling based passenger screening) und c) direkt vor und nach dem Kontrollprozess erhobenen Verhaltensdaten (behavioural analysis based passenger screening).

Thomas Linder (Kapitel 3) kritisiert an der Überwachungsdebatte in Reaktion auf die Snowden-Enthüllungen der NSA-Aktivitäten, dass sie mehrheitlich auf Panoptik-Metaphern, wie beispielsweise “Big Brother” und “Orwellian”, beruhten und dadurch Ambivalenzen ausgelöst hätten, die zentrale Aspekte der Überwachungspraktiken verschleierten. Linder plädiert daher zugunsten einer differenzierten Betrachtung mittels post-panoptischer Theorien und zeigt, wie die Gegenspieler in Überwachungspraxis und -diskursen (insbesondere Regierungen und Journalisten) zentrale Konzepte wie “Privatsphäre/Privatheit” oder “Freiheit” unterschiedlich konstruiert haben.

Überwachung und das Recht auf Privatsphäre/Privatheit in der EU.

In Kapitel 4 analysiert Elisa Orrù das Schengen Informationssystem (SIS) zur automatischen Suche von Objekten und Personen und die Vorratsdatenspeicherung in der EU am Beispiel der Richtlinie 2006/24/EC als Überwachungspraktiken, die den Charakter der sich ausdehnenden Macht der EU zeigen. Unter Rückgriff auf Herrschafts- und Legitimationstheorien Arendts, Webers, Habermas’ und Bobbios stellt Orrù die Entscheidungsfindung der EU als vertikal und horizontal fluide dar, der klare und stabile Verantwortlichkeiten für Entscheidung und Umsetzung fehlen. Sie betrachtet den Rückgriff der EU-Institutionen auf Sicherheit als Wert und Referenz für Dynamik daher als Kompensation für die Legitimationsprobleme, die die EU durch ihre wachsenden supranationalen Machtstrukturen erfährt.

Maria Grazia Porcedda (Kapitel 5) kritisiert am trade-off model, dass mit ihm sicherheitspolitische Maßnahmen in der EU nur mangelhaft erfasst und bewertet werden können. Denn der komplexe Begriff der Privatsphäre wird, so Porcedda, im EU-Recht als Sammelbegriff für einerseits privates (Familien-)Leben und andererseits für den Schutz persönlicher Daten verwendet – also für zwei unterschiedliche Dinge. So müssten verschiedene Ansprüche auf Privatsphäre gegenüber Sicherheitsfragen abgewogen werden. Porcedda zeigt, dass die verschiedenen Privatheits-Ansprüche des EU-Rechts entscheidend für eine Stärkung individueller Persönlichkeits- und Selbstbestimmungskonzepte sind. Es macht, so schlussfolgert sie, keinen Sinn, Privatheit und Sicherheit abstrakt einander gegenüberzustellen. Vielmehr müssen für konkrete Maßnahmen, die auf Sicherheit abzielen, die konkreten, rechtlich verbürgten Rechte auf Privatheit herangezogen werden. Das vertiefte Verständnis von Sicherheit und Privatheit zeigt, so Porcedda, dadurch auch auf, wie es um die Verfassungswirklichkeit in der EU bestellt ist.

Kapitel 6 und 7 betrachten den Widerhall der Herausforderungen internationaler Sicherheitspolitik und die Wechselbeziehungen zwischen Überwachung, Sicherheit und Privatheit auf innenpolitischer Ebene am Beispiel der Nationalstaaten Deutschland und Italien.

Jörg Klingbeil (Kapitel 6), 2015 noch Baden-Württembergs Landesbeauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit, stellt die Arbeit seiner Behörde und deren handlungsleitende nationale und EU-Datenschutzprinzipien vor. Sein Fokus liegt, neben kurzen Erläuterungen zu den Verhandlungen um die Datenschutz-Grundverordnung auf der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über das Safe Harbor-Abkommen und dessen Nachfolger, den EU-US Privacy Shield. Dessen Zustandekommen durch die Initiative des österreichischen Jurastudenten Max Schrems reflektiert er ebenso wie er selbstkritisch die Rolle der EU-Institutionen und Datenschutzbehörden in ihrer wachsenden Verantwortung anspricht.

In Kapitel 7 beschäftigt sich Enrico Gargiulo mit Überwachungspraktiken in Italien gegenüber “unerwünschten Individuen” wie Migranten und Menschen aus sozial niedrigen Schichten. Zu solchen Praktiken zählt Gargiulo Versuche von Gemeindebehörden, Migranten nicht in ihre Stadt zu lassen, aber auch die Verweigerung der Registrierung von Migranten in ihrem Ort (und damit auch die Verweigerung von Rechten wie z.B. einer Arbeitserlaubnis). Überwachung wird dazu benutzt, zwischen Menschen mit und ohne Aufenthaltsberechtigung zu unterscheiden. Soziale Kontrolle wird hier nicht, so Gargiulo, als monitoring (Identifizierung zur Registrierung für die Anerkennung administrativer Existenz von Menschen), sondern als Kategorisierung und Selektion ausgeübt, um die symbolischen Grenzen zwischen Kommune (ihren Rechten, sozialen Begünstigungen und Leistungen) und den ausgeschlossenen “Unerwünschten” aufrechtzuerhalten.

Mit Kapitel 8 beschließt Michele Rapoport den Sammelband und dessen “Zooming”-Perspektive von der internationalen zur regionalen und nationalen Ebene mit einem Blick auf den räumlichen Kernbereich von Privatsphäre: Die private Wohnung und neue Praktiken der Selbstüberwachung mit SmartHome-Technologien. Nach Rapoport können diese nicht nur panoptische Kontrolle im heimischen Bereich, sondern auch erwünschte Befähigung des Individuums bedeuten, das selbst über Sichtbarkeit und Überwachung entscheidet. Doch dies rüttelt am traditionellen Verständnis von Zuhause und Privatheit: Im überwachten Heim kann sich Persönlichkeit nicht in Zurückgezogenheit herausbilden, sondern durch das ständige Gesehen Werden. Rapoport lässt offen, ob dies begrüßenswert ist, und öffnet den Blick auf mögliche zukünftige Formen von Autonomie, Zuhause sowie auf Fragen nach Würde und Privatsphäre in der Gesellschaft insgesamt.

Ein Fazit

Die bisweilen verwirrende Vielfalt an Perspektiven aus Soziologie, (Datenschutz-)Recht, Internationalen Beziehungen und (Rechts-)Philosophie erhält durch die “Zooming”-Perspektive des Bandes (von der internationalen zur häuslichen Perspektive) eine Struktur, die den Band als Gesamtvorhaben zusammenhält, transdisziplinär Überwachung und Kontrolle zu diskutieren. Als Band einer Tagung, die viele Forschungsfelder zusammenbrachte, ist die Sammlung weniger für Spezialisten aus den Einzeldisziplinen geeignet. Vielmehr dient sie fortgeschrittenen Studierenden, Forschenden und Akteuren aus Recht, Politik und Verwaltung mit Interesse an Surveillance Studies und Internationalem Recht.

Auch ohne die “Zooming”-Perspektive, um die sich die Herausgeber bemühen, lassen sich die Aufsätze auch einzeln mit Gewinn lesen. Für konzeptionelle Klarstellungen lohnen sich insbesondere die Ausführungen Herrons (Kapitel 1) zu (republikanischer) Freiheit und Sicherheit sowie die EU-politischen/-rechtlichen Überlegungen (Orrú, Kapitel 4; Porcedda, Kapitel 5). Besonders aufschlussreich ist Gargiulos Blick auf Überwachung und Migration in Italien, indem er Überwachung als soziale Kontrolle fokussiert, die gesellschaftliche In- und Exklusion bedeutet (Kapitel 7). Rapoports Beitrag (Kapitel 8) zeigt schließlich am Beispiel von SmartHome und Selbstüberwachung auf, dass Privatheit/Privatsphäre, Autonomie, Macht und Kontrolle höchst komplexe und wandelbare Konzepte sind, die stets neuer wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskussion bedürfen.

Rapoports Artikel wie auch der Sammelband als Ganzes werden dieser selbst gestellten Aufgabe, Überwachung und Kontrolle jenseits der Gegenüberstellung von Sicherheit und Privatheit neu zu denken, in vielfacher Weise gerecht.

Jonas Vollmer ist Multiplikator für Digitalisierung und 
Medienkompetenz in der Berufsbildung. 
Mit Selbstbestimmt.Digital e.V. organisiert er in Baden-Württemberg 
und Berlin Workshops und Aktionen zum digitalen Empowerment 
der BürgerInnen. Er ist für Bürger- und Verbraucherrechte in 
Europa und Südamerika aktiv.
Seine Forschungsinteressen sind: 
Jugend und Digitalisierung, politische Kultur und Überwachung,
Mixed Methods Research.