Rezension: Kritische Kollektivität im Netz

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Carolin Wiedemann: „Kritische Kollektivität im Netz. Anonymous, Facebook und die Kraft der Affizierung in der Kontrollgesellschaft“ Bielefeld: Transcript 2016

von Carolin Zieringer, Bremen

Die Frage nach der Subversion – Aufbau und Anliegen des Bandes

Die kumulative Doktorarbeit trägt einen vielversprechenden Titel und bringt die Schriften Foucaults zu Macht und Biopolitik, deren deleuzianische Weiterentwicklung und (politiktheoretisches) Denken gegen Repräsentations- und anthropozentrische Subjektlogiken in eine fruchtbare Verbindung mit zu wenig beachteteten Prozessen der Informatisierung und Digitalisierung.

Damit stellt sich Carolin Wiedemann der Frage nach dem subversiven Potenzial (oder auch der Unmöglichkeit) von Anonymität und Kollektivität im Netz. Wiedemann nimmt sich dazu die Utopie von nicht-hierarchischer, disruptiver Solidarität in anonymen Kollektiven zum Fluchtpunkt und argumentiert, dass sie im hacktivistischen Anonymous-Kollektiv bereits Realität ist. Den Rahmen dafür bietet die normative Analyse von ambivalenten Prozessen sich digitalisierender Gesellschaften. Hervorzuheben ist dabei, das die Autorin mit dem Affektbegriff ein anregendes theoretisches Scharnier findet, das die oftmals getrennt gedachten Bereiche von Körper/Identität und Technik/Digitales als interdependent zu fassen vermag. Sie hat damit auch ein Instrument zur Hand, das erklärt, wie anonyme Kollektive überhaupt zu Stande kommen können und warum sie Handlungsfähigkeit entwickeln. Dieses Feld spannt Wiedemann in einem einleitenden Kapitel auf, indem sie die (n)ethnographische Methodik einiger empirisch gestützter Passagen erläutert und sich von humanistischen Handlungs- und Identitätsbegriffen abgrenzt. Zugleich weist sie darauf hin, dass die Arbeit kein empirisches Stück im engeren Sinne ist, sondern ausgehend von der Theorie konkrete Fallbeispiele besser verstehen und damit Theorie wiederm anreichern möchte. Wie hängen Affekt und Code zusammen, und kann jenes Konglomerat “auch subversiv [sein], wenn es an bestehende Ordnungen anschließt? Also den Macht- und Wissensordnungen entspricht, die überhaupt erst sicht- und sagbar machen?” (S. 361). Dies ist, was merklich die profunde Theoriearbeit und -auswahl bestimmt.

Das Herz des Bands besteht aus fünf bereits publizierten Artikeln, die in gut nachvollziehbarer Weise das Untersuchungsfeld stichprobenartig erkunden und die “Problemlage” verdichten: Von der offensichtlichen Regierungslogik des “alltäglichen Assessment-Centres” Facebook, über nur scheinbar sinnlose, in jedem Fall aber zweckfreie und deshalb so bedeutende Lolcat-Memes hin zur Widerständigkeit des virtuellen (Anonymous-)Kollektivs: Wenn ich Wiedemann richtig verstehe, sieht sie es deshalb als so wichtigen Präzedenzfall, weil es zeigt, wie technologisch vermittelte Affizierung die ubiquitäre (Regierungs-)Logik der Kontrollgesellschaft unterlaufen kann. Die Auflösung von Identität im Internet muss nicht die Auflösung von Kollektivität und Solidarität bedeuten, sondern ermöglicht gerade diese in neuer, widerständiger Form.

“Kritische Kollektivität im Netz” – Wiedemanns Vorgehen

“Als subversiv lässt sich all das bestimmen, was bestehende Wissens- und Machtordnungen piekt, sie ins Wanken bringt, destabilisiert” (S.36). Es bleibt jedoch die Frage nach dem, was da wie gepiekt werden soll, die Wiedemann angeht. Ausgehend von Foucaults Subjektverständnis als Effekt von Dispositiven, Diskursen und Gouvernementalitäten, macht sie unter Annahme eines wuchernden biopolitischen Kapitalismus deutlich, warum Kritik als die Kunst, “sich nicht dermaßen regieren zu lassen” (Foucault 1978: S. 240) paradoxerweise genau ihr Gegenteil bewirken kann. So kann Tiqqun (2007) zufolge jede Störung des Systems in der Kontrollgesellschaft angeeignet und zur Stärkung dieses Dispositivs umgearbeitet werden. Die beißende, zuweilen polemische Kritik dieses Autor*innen-Kollektivs greift sie an dieser Stelle auf. In einem weiteren Schritt schlägt sie einen erklärungsstarken Bogen zum New Materialism (insbesondere vertreten durch Massumi und Barad), der erklären soll, warum diese Logik zur Basis sozialer Handlung und Identität werden konnte und weshalb Technologie dabei so eine entscheidende Rolle spielt. Deutlich skizziert sie die Homologie post-strukturalistischer Denkweisen von Gesellschaft als Netz (Facebook als Paradebeispiel) oder Rhizom (Anonymous als Hoffnungsträger) und den digitalen Infrastrukturen, insbesondere im WWW.

Wiedemann bringt verschiedene Theorie-Monumente in ein konsistent argumentiertes Gesprächh der philosophischen Positionen (unter anderem seien genannt Hardt und Negri, Virno, Agamben, kritisch Latour, und zustimmend Massumi). Ein Lesevergnügen sind jedoch vor allem die Abschnitte, in denen sie eigene Einsichten, Kategorisierungen und Gedankengänge (v.a. S. 7-17, S. 45 ff.) darlegt. Dies zeigt sich speziell in den anwendungsbezogenen Beiträgen des Hauptteils (v.a. gelungen: “Facebook – Das Assessment-Centes der alltäglichen Lebensführung” (S. 77-102) und “Swarms, Mems and Affects – A New Materialist Approach to the Infrastructure of 4chan” (S. 177-196).

Multitude, Affekt und Euphorie – Wiedemanns Lücken

Dank der kumulativen Form der Arbeit kann Wiedemann die Prozessualität des eigenen Forschens wiedergeben. Damit einher gehen allerdings auch (unnötigerweise) repetitive Passagen, und es werden wieder und wieder die selben Phänomene erläutert, was den roten Faden ausfransen lässt. Zugleich fehlt eine eingehende Thematisierung der Problematiken, die Konzepte wie Schwarm, Multitude und z.B. retrospektiv entwickelte Narrative des Anonymous-Körpers mit sich bringen. Diese werden zwar angesprochen, aber kaum weiter beachtet. Dies ist meines Erachtens vor allem der Tatsache geschuldet, dass die Diskussion darüber, was Anonymität eigentlich ist, kaum Raum eingeräumt bekommt (abgesehen von einem kurzen Verweis, dass sie sich an Tsianos anlehne). Das verwundert in Anbetracht des Titels und der Erklärung, dass Anonymität als Taktik (S. 37) den Nährboden des disruptiven Ereignisses schlechthin bedeutet: “Damit konzipiere ich [Carolin Wiedemann, Anm. d. A.] Widerstand als unvorhersehbares Kollektiv-Werden, das sich über die Kraft der Affekte in der Anoymität ereignet” (S. 103). In der Folge bleiben viele kritische Fragen in Bezug auf die Realität der Multitude und die (auch unerwünschten, nicht intendierten Neben-)Wirkungen der Affizierung ungestellt. Ist die Person wirklich anonym bloß weil sie keine Daten hinterlässt, also gesichts- und namenslos ist? Reicht das wirklich zur Auflösung der Identitätslogiken? Auch ist offen, ob Widerstand dann dem Zufall (“unvorhersehbares Kollektiv-Werden”) überlassen ist. Ebenso wird nicht näher darauf eingegangen, ob und wie das Reden von Anonymität als Taktik auch in praktische Strategie übersetzt werden kann. Die Fallstudie Anonymous scheint mir hier unzureichend. Wiedemann scheint an mancher Stelle zu schnell in die nicht immer nüchternen, sondern eher utopischen Sphären der Multituden-Euphorie gezogen zu werden.

Insgesamt bietet “Kritische Kollektivität im Netz” einen guten, historisch eingebetteten und reflektierten Überblick über aktuelle Theoriedebatten, der auch einen Beitrag zur politischen Praxis leisten kann. Meines Erachtens ist es der Arbeit hoch anzurechnen, dass sie dem Anspruch an Interdisziplinarität gerecht zu werden versucht und das zumeist auch schafft: Soziologie, Politische Theorie, Philosophie, Psychologie, Soziologie, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Ethnologie/Ethnographie haben ihren Platz. Leider lesen sich einige theoretischen Passagen schwergängig, weil Wiedemann viel Anlauf braucht, um zum eigentlichen Argument zu kommen. Wünschenswert zur besseren Nachvollziehbarkeit wären des Weiteren eine umfassendere Erläuterung der Datenauswertung und ein Anhangg gewesen (besonders deutlich S. 50f., 134-138). Zum Beispiel könnten Beobachtungsprotokolle oder ein Transkript des von ihr so häufig erwähnten Interviews mit 4chan-Gründer Poole helfen das empirische Vorgehen der (n)ethnographischen Passagen transparenter zu machen.

Zudem fehlt bedauerlicherweise – vermutlich aber aufgrund eines Bindefehlers des Verlags – das Literaturverzeichnis für Einleitung und Schluss ab Buchstabe ‘F’ (was aber auch ein Produktionsfehler sein könnte).

Fazit

Für den Einstieg in die entsprechend genannten Theoriefelder ist die Lektüre von Wiedemanns Dissertation empfehlenswert; auch für alle jene, für die Informatisierung und Digitalisierung noch “Neuland” sind, für jene, die Lolcats und Memes in die Popkultur abschieben wollen und alle die, für die sich Virno und Agamben begründetermaßen zu “mythologisierend” und zu a-historisch lesen.

LOLCat. Quelle: https://iamkio.wordpress.com/category/lolcat-friday/

Literatur:

Foucault, Michel (1978): Was ist Kritik? In: Ders. Kritik des Regierens. Schriften zur Politik. Berlin: Suhrkamp.
Tiqqun (2007): Kybernetik und Revolte. Berlin / Zürich: diaphanes.

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