Essay: Schluss mit der Privatsphäre?

Die Privatsphäre als Kollektivgut für mehr Autonomie

von Nils Zurawski

Schluss mit der Privatsphäre, Schluss mit der Debatte! Das ist befremdlich? Zu radikal?  Aber vielleicht ein möglicher Einstieg in eine alternative Sichtweise auf Überwachung, Datenschutz und dem was man mit den Enthüllungen Edwards Snowdens verbindet.


Seit der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden enthüllt hat, wozu die NSA fähig und willens ist, wird vor allem eine Frage immer wieder gestellt: Welche Folgen haben diese Enthüllungen für die Menschen der Welt, für jeden einzelnen von uns? Das ist zunächst ein logische und auch ganz wichtige Frage, doch eigentlich die falsche. Denn es sind nicht die Enthüllungen, die uns primär betreffen und die den Skandal ausmachen, sondern viel eher das, was enthüllt wurde. Die NSA hat bereits abgehört, seit Jahren, ohne dass wir es mitbekamen und es für die meisten von uns spürbare Auswirkungen gehabt hätte. Nicht die Enthüllungen sind obszön, sondern das Enthüllte. Es müsste also eigentlich darüber geredet und nachgedacht werden, was erzählt wird und wie es zu der maßlosen Spionage einiger Dienste und ihrer Helfershelfer kommen konnte und warum bei aller Aufgeregtheit grundsätzlich eigentlich nicht über die Probleme gesprochen wird, um die es eigentlich gehen sollte.

Daraus allerdings zu schließen, es müssten jetzt neue und effizientere Gesetze gemacht werden, die den Bürger besser schützen und den Datenschutz erhöhen. Jeder Bürger müsste befähigt werden, so manche Ideen, seine Daten besser zu verbergen, also zu verschlüsseln oder die viel gerühmten, aber kaum bekannten TOR Netzwerke zu benutzen. All diese guten und hilfreichen Strategien bleiben jedoch dem Spiel verhaftet, das gerade enthüllt wurde: Schafft neue Geheimnisse, denen wir (der Staat) dann nachspüren können und umgekehrt. Es erinnert dabei ein wenig an den weißen und schwarzen Spion aus den Comics, die sich immer neue Gemeinheiten überlegen den jeweils anderen auszutricksen. Gibt es denn überhaupt neue Sichtweisen, andere Perspektiven auf das Problem einer scheinbar erodierenden Privatsphäre, einer Datenverletzlichkeit, mit der wir über unsere Position in einer solchen Welt nachdenken und diese angesichts der Entwicklungen begreifen können? Ja, aber das hieße von dem Konzept der Privatsphäre abzuweichen, wie es dominant ist und andere Aspekte der Überwachung und Kontrolle in den Mittelpunkt zu rücken.

Der Schweizer Soziologe Sami Coll wendet sich gegen herrschende Diskurse des Datenschutzes und zeigt, warum gerade die Privatsphäre in mancherlei Hinsicht auch als die Verbündete der Überwachung in Erscheinung tritt. Der normative Rahmen, der mit den festen Grenzen von dem was allgemein und nach den Datenschutzgesetzen als „privat“ zu gelten hat und was ein Übertritt in diese so definierte Sphäre ist, bestimmt die Diskussion. Mehr noch, eine fest definierte Privatsphäre macht Überwachung erst möglich – es wird so noch viel leichter das Private zu kontrollieren, wenn es erst einmal klar definiert worden ist. Colls Argument ist, dass die Definition der Privatsphäre als individualistisch, als rechtlich festgeschrieben und dem Prinzip der informationellen Selbstbestimmung verhaftet, eine Reihe von Nachteilen hat, wenn es darum geht kollektive Bürgerrechte und demokratische Prinzipien zu schützen. Zum einen kritisiert diese rechtliche Einhegung nicht den Informations-Kapitalismus an sich, sondern versucht lediglich den Bürger/Konsumenten vor allzu viel Neugier der Unternehmen zu schützen. Das Geschäftsmodell „Individuelle Daten gegen Dienstleistungen“ als solches wird nicht angetastet, Alternativen nicht gedacht. Weiterhin sieht Coll das Prinzip der individuellen Verankerung der Privatsphäre als problematisch an. Seiner Ansicht nach ist Privatsphäre auch immer etwas Kollektives, Relationales, das in Bezug zu anderen bestimmt und auch begriffen wird. Sie wird je nach Situation und sozialer Beziehung durchaus verschieden wahrgenommen und gelebt. Als individuelles Recht jedoch steht sie im Zweifelsfall den Interessen von Sicherheit oder einem auch nur vage definierten Allgemeinwohl gegenüber und wird im Zweifel diesen untergeordnet. Privatsphäre als kollektives Prinzip zu verstehen, hieße, es als Teil des Gemeinwohls zu begreifen und nicht ausschließlich im Zusammenhang mit einer Wahlfreiheit innerhalb eines informationellen Konsum-Kapitalismus. Die Privatsphäre ist ein Teil dieser Konsumlogik, nicht der Schutz davor. Der Kampf um die Definition, was als privat zu gelten hat, ist auch der Kampf um die Möglichkeiten an gesellschaftlichen Debatten teilzuhaben und letztlich darüber, in welchem Rahmen man sich bewegen kann. Das gern zitierte Panopticon Benthams kann auch hier als Beispiel dienen. In diesem als Gefängnis geplanten Gebäude, welches zum Sinnbild der Überwachungsgesellschaft geworden ist, und in dem der Wärter die Gefangenen sehen konnte, diese aber nicht den Wärter, gab es einen Bereich der Zelle, der nicht einsehbar war. Der Gefangene konnte sich so zwar dem Blick entziehen, nicht aber der Zelle, der Macht und der Kontrolle. Und in diesem Sinne funktioniert auch das Konzept einer normativ festgelegten und auch das Individuum festgelegten Privatsphäre. Es geht dabei um Informationen über das Individuum, die möglicherweise in einer Konsumgesellschaft verwertbar sind, nicht jedoch um die Sphären des Privaten, die im Kollektiv entstehen, die zum Schutz von Gruppen, zu ihrem Zusammenhalt oder in der sozialen Aushandlung entstehen. Das hieße im Endeffekt auch Gruppenrechte wahrzunehmen, womit das Individuum als Subjekt weniger kontrollierbar wäre. Das aber ist nicht das Ziel des Staates oder der Unternehmen. Das gängige Konzept der Privatsphäre trennt die Individuen und lässt kollektive Aktionen nicht zu. Coll argumentiert sehr schlüssig, dass die Privatsphäre als individuelles Konzept eine Überwachung der Individuen begünstigt, auch weil so die grundsätzliche Kontrolle von Subjekten als solche nicht in Frage gestellt wird.

Diese auf eine konsumistische Wahlfreiheit reduzierte Freiheit des Individuums hat noch eine weitere Konsequenz, die in der Diskussion über Privatsphäre und Datenschutz zu kurz kommt. Die Konzentration auf den Schutz der Informationen des Individuums – seiner Daten – vergisst darauf zu schauen, wie Konsum zunehmend auch organisiert wird. Ein paar Beispiele, in denen deutlich wird, warum es eigentlich weniger um die Überwachung des Einzelnen geht, sondern über den Einzelnen eine Verhinderung von Kollektiven versucht wird. Vor allem der Unterhaltungsriese Apple macht es vor, wie man mit der Bereitstellung von Computern, Vertriebswegen und der Kontrolle der gehandelten Inhalte, ein enormes Potenzial zur Steuerung der Kunden entwickelt hat. Woher weiß ich, dass Apple nicht nur Händler, sondern auch Zensor und Geschmackserzieher gleichermaßen ist? Ähnlich großen Industriebetrieben aus dem 19. Jahrhundert, in dem Arbeit, Wohnen, Konsum und Freizeit (und wohl auch Glaube und politische Teilhabe) von dem Unternehmen bestimmt und Abweichungen kontrolliert wurden, ist das Modell von Apple und Google dazu angetan in diese Fußstapfen zu treten. Und wenn es dann nicht länger nur um gehandelte Produkte geht, sondern um die Kontrolle des Konsums und die Erziehung hin zu bestimmten Inhalten, dann geht es auch um die Kontrolle und Steuerung von Individuen, deren Ziel auch die Vermeidung kollektiver Selbstorganisation sein kann. Überwachung durch Konsum. Der Datenschutz des Einzelnen erleichtert ironischerweise diese Strategien. Und auch Apple selbst kann sich erstaunlicherweise auf ähnliche Rechte berufen wie das Individuum wenn es um Datenschutz geht. Aber wie kann ein Unternehmen eine individuelle Privatsphäre haben?

Ein zweites Beispiel sind die vielen smarten Anwendungen, von der Smarphone-Restaurantsuche bis hin zur komplexen Steuerung einer Smart-City, einer Großstadt, in der die Nutzung und Deutung den Bürgern abgenommen wird. Grundlage sind die vielfältigen Daten jedes Einzelnen, die im Zweifel dem Allgemeinwohl untergeordnet werden, wenn es um Stromverbrauch geht oder um die Verkehrssteuerung einer Stadt. Es geht hier vor allem um die Kontrolle der Zukunft, um die Aufrechterhaltung einer Ordnung, die auch die Erziehung zum Guten beinhaltet. Wer will sich schon gegen smarte Strommessungen wehren, wenn das hieße nicht umweltschonend zu sein? Eigensinnige Handlungen können als Abweichung gedeutet und dann bekämpft oder gar im Vorwege verhindert werden. Eine demokratische Abstimmung darüber, wie eine Gesellschaft als Kollektiv leben möchte, wird so unmöglich gemacht, da es immer nur um ein vermeintliches Allgemeinwohl geht, zu dem die Informationen der Individuen herangezogen werden dürfen. Es findet so eine Aushöhlung gesellschaftlicher Teilhabe statt, wenn nicht berücksichtigt wird, dass das Wohl nicht verordnet werden kann, sondern sich in kollektiven Aushandlungen ergibt. Die Fixierung auf den Schutz der Privatsphäre des Einzelnen verdeckt, dass es auch andere Konzepte gibt.

Sowohl Coll als auch andere Forschungsprojekte zu dem Umgang Bürgern und Bürgerinnen mit Daten, Konsum und den Einstellungen zu Privatheit zeigen, dass es vielfältige Konzepte von dem gibt, was als privat angesehen wird und die häufig nicht mit dem in den Datenschutzgesetzen geschützten Gütern übereinstimmt. Privatsphäre ist subjektiv, aushandelbar, kollektiv verankert und eben nicht immer streng individualistisch. Menschen betreiben ein Management ihrer Daten so wie sie auch ein Management ihrer sozialen Beziehungen betreiben. Der Eigensinn von Individuen als auch die Möglichkeit zu kollektiver Organisation jenseits von steuerbaren Vorgängen muss erhalten bleiben und darf nicht durch den Griff auf die individuell geschützten, aber im Zweifel zu verwendenden Daten verhindert werden. Schluss mit der Privatsphäre also – nein. Aber Schluss mit der exklusiven Sichtweise von Privatsphäre, die verdeckt, dass Überwachung mehr ist als mangelnder Datenschutz, sondern zunehmend eine Bevormundung der Bevölkerung unter dem Vorwand der Erziehung zum guten Menschen, letztlich aber eine Steuerung der Bedürfnisse, Vorlieben und somit der freien, kollektiven Willensbildung ist. Nur wenn auch das System eines mit Datenschutz verbundenen Konsumkapitalismus selbst in Frage gestellt werden kann, gibt es auch neue Möglichkeiten für gesellschaftliche Emanzipation.

Nils Zurawski, September 2014, Hamburg

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